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Stil und Individualität


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Stil und Individualität Was hatten Beau Brummell, Oscar Wilde und Andy Warhol gemeinsam? Alle drei »boten ihrem Publikum ein aufwendig stilisiertes Erscheinungsbild«, schreibt Michael Müller in seiner Studie »Stil und Individualität. Die Ästhetik gesellschaftlicher Selbstbehauptung«. Dieses Bild war jeweils der individuelle Versuch, in einer sich radikal modernisierenden Gesellschaft, sich herauszuschälen, sich abzugrenzen. Allen drei galt die Gewinnung und Darstellung von Individualität als Lebensmaxime. Ihre Stilisierungspraktiken bilden den empirischen Schwerpunkt der Untersuchung. Ein weiterer Fokus ist die grundsätzliche Problematik, in einer individualisierten Gesellschaft, über die Darstellung von Individualität, Kontur zu erlangen. Müllers Einzelanalysen sind substantiiert und zeugen von der Beherrschung der einschlägigen Literatur. Dennoch hat der Leser das Gefühl, das Geschilderte sei auf ein bestimmtes Ziel hin geschrieben. Der Urdandy Beau Brummell (1778-1840) wird zutreffend charakterisiert. Müller sieht das große Ausmaß von dessen Selbststilisierung, - gleich seiner beiden Nachfolger Oscar Wilde (1854-1900) und Andy Warhol (1928-1987). Brummell habe »das rustikale Erscheinungsbild des Gentleman« zu einer »von aller Alltagspragmatik bereinigten Ästhetik souveräner Persönlichkeit« weiterentwickelt. Lehrreich ist die Interpretation des Auftragsaquarells, das Richard Dighton 1805 von Brummell anfertigte. Es zeugt von selbstbewusster Distanziertheit des gutaussehenden jungen Mannes (Brummell war da 27 Jahre alt und dabei, sein Dandytum zu perfektionieren.), die jedoch nicht in Unfreundlichkeit abgleitet. Ein weiteres Novum in der bislang spärlichen deutschen Brummell-Literatur ist die Bezugnahme auf das englische Gentleman-Ideal. Entgegen landläufiger hiesiger Auffassung ist der Herr eben Gentleman aufgrund von Humor, Schlagfertigkeit, Intelligenz und Stilsicherheit. Vermögen oder familiäre Herkunft sollen hierfür keine Rolle spielen. Ohne dies Gentleman-Ideal ist die Sozialfigur des brummellschen Dandys nicht zu verstehen. Müller arbeitet das raffinierte Aufnehmen und Erweitern dieser Rolle durch Brummell heraus: Die Unabhängigkeit, die den Gentleman ausmacht war es, die Brummell auf die Spitze trieb. Der Schluss von Müllers Brummell-Analyse kann nicht ganz überzeugen. Müller fragt, »was wäre, wenn kein oder zumindest kaum ein einzelnes Individuum eine solch unabhängige, selbstkontrollierte und verantwortungsethische Selbstkonstitution leisten kann?«. Hat Brummell sie nach seiner Auffassung geleistet? Ist diese überhaupt realiter zu leisten? Darüber hätte man gern etwas erfahren. Aber Müller weicht aus mit einem wissenschaftlichen Bandwurmsatz, der in dem Buch leider nicht der einzige bleibt: »Dann wäre der dandyeske Versuch, das genteele Persönlichkeitsideal allein mit ästhetischen Mitteln zu realisieren, nicht nur aus der Hybris einzelner zu erklären, sondern durch die ihm eigene Sinnstruktur als ‚Antwort’ auf den Glauben an ein Individuum, das als autonomes einzelnes Garant der gesellschaftlichen Ordnung sein und als solches seine verlorengegangene gesellschaftliche Kontur wiedererlangen soll.« Lesenswert ist auch das sechste Kapitel »Aura der Unzulänglichkeit. Die emphatische Oberflächlichkeit Andy Warhols«. Nicht nur der Pop-Ikone Spiel mit Medien und Öffentlichkeit werden dargestellt und problematisiert. Sondern auch das jeweilige subtile Aufnehmen seines Produzierens, Äußerns, Verhaltens in das wiederum Eigene. Das macht es letztlich so schwer, das eine vom anderen zu trennen. Zugleich ist es essentieller Teil des Gesamtkunstwerkes ‚Andy Warhol’. Zahlreiche Fotos und Bilder von Warhol, die meisten stammen von ihm, begleiten den Text. Sie verdeutlichen Warhols Negation jedweder künstlerischen Autonomie und Kreativität. Das wesentliche Ergebnis der Studie ist die Einteilung der drei untersuchten Individualitätstypen. Danach ist Brummell ein dandyesker mit verfeinert Ästhetik, das heißt mit einem »Raffinement gesellschaftlich typisierter Ausdrucksformen«. Wilde dagegen repräsentiert den exzentrischen Individualitätstypus: Seine Selbstdarstellung stand in bewusster Differenz zu gesellschaftlich typisierten Formen und Rollenfiguren. Andy Warhol repräsentiert nach Müller eine negative Ästhetik, die in einer »Verweigerung zeichenhaft-symbolischer Selbstrepräsentation« liege. Eine Schwäche der Untersuchung ist die Perzeption der jeweils analysierten Figur ausschließlich im Fenster ihrer Zeit. Bedeutsam wäre gerade bei den großen Selbstdarstellern, um nicht zu sagen Dandys, die Berücksichtigung von Rückblick, Interpretation und eventueller Berufung der Figuren auf ihre Vorläufer. So ist von Oscar Wilde bekannt, dass er sich mit Brummell beschäftigt hat. Otto Mann hat in seiner noch heute maßgeblichen Doktorarbeit bei Karl Jaspers »Der moderne Dandy – Ein Kulturproblem des 19. Jahrhunderts« (1926) geschrieben, der Dandy »will aufhören, an einer Zeit zu leiden, die er verachtet; er durchdenkt seine Machtmittel und faßt den Plan, die Gesellschaft durch ihre eigenen Gesetze zu schlagen«. Diese Gesetze waren im Regency, wo die Mode herrschte, andere als im prüden viktorianischen England Wildes. Hier bleibt die Untersuchung lückenhaft, sieht Müller beispielsweise nicht, dass Wilde anfänglich auch von vielen Londonern kopiert worden ist. Schaut man sich die Rollenfiguren aus dieser Perspektive an, ergeben sich bedeutende Perzeptionsmarken, die Müller auslässt. Mann kommt zum Ergebnis, trotz gegensätzlichen ersten Anscheines habe Wilde das Dandytum im 19. Jahrhundert wiederbelebt. Die Gemeinsamkeit der drei Rollen ist deren Wille, »in einem Akt kultureller Realisation«, wie es Mann formuliert, »über die begrenzte Gültigkeit« ihres Ichs zu erheben. Dieses Selbst wird nun zum »Verwirklicher von Ideen, die an der Zeit sind für ein höher[es] Allgemeines«. So sind es möglicherweise die bislang nur punktuell analysierten Gemeinsamkeiten von Brummell, Oscar Wilde, Ernst Jünger, Karl Lagerfeld und anderen dandyesken Persönlichkeiten, die zukünftige Generationen beschäftigen werden.

Was hatten Beau Brummell, Oscar Wilde und Andy Warhol gemeinsam?

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Alle drei »boten ihrem Publikum ein aufwendig stilisiertes Erscheinungsbild«, schreibt Michael Müller in seiner Studie »Stil und Individualität. Die Ästhetik gesellschaftlicher Selbstbehauptung«. Dieses Bild war jeweils der individuelle Versuch, in einer sich radikal modernisierenden Gesellschaft, sich herauszuschälen, sich abzugrenzen. Allen drei galt die Gewinnung und Darstellung von Individualität als Lebensmaxime. Ihre Stilisierungspraktiken bilden den empirischen Schwerpunkt der Untersuchung. Ein weiterer Fokus ist die grundsätzliche Problematik, in einer individualisierten Gesellschaft, über die Darstellung von Individualität, Kontur zu erlangen.

Müllers Einzelanalysen sind substantiiert und zeugen von der Beherrschung der einschlägigen Literatur. Dennoch hat der Leser das Gefühl, das Geschilderte sei auf ein bestimmtes Ziel hin geschrieben. Der Urdandy Beau Brummell (1778-1840) wird zutreffend charakterisiert. Müller sieht das große Ausmaß von dessen Selbststilisierung, - gleich seiner beiden Nachfolger Oscar Wilde (1854-1900) und Andy Warhol (1928-1987). Brummell habe »das rustikale Erscheinungsbild des Gentleman« zu einer »von aller Alltagspragmatik bereinigten Ästhetik souveräner Persönlichkeit« weiterentwickelt. Lehrreich ist die Interpretation des Auftragsaquarells, das Richard Dighton 1805 von Brummell anfertigte. Es zeugt von selbstbewusster Distanziertheit des gutaussehenden jungen Mannes (Brummell war da 27 Jahre alt und dabei, sein Dandytum zu perfektionieren.), die jedoch nicht in Unfreundlichkeit abgleitet. Ein weiteres Novum in der bislang spärlichen deutschen Brummell-Literatur ist die Bezugnahme auf das englische Gentleman-Ideal. Entgegen landläufiger hiesiger Auffassung ist der Herr eben Gentleman aufgrund von Humor, Schlagfertigkeit, Intelligenz und Stilsicherheit. Vermögen oder familiäre Herkunft sollen hierfür keine Rolle spielen. Ohne dies Gentleman-Ideal ist die Sozialfigur des brummellschen Dandys nicht zu verstehen. Müller arbeitet das raffinierte Aufnehmen und Erweitern dieser Rolle durch Brummell heraus: Die Unabhängigkeit, die den Gentleman ausmacht war es, die Brummell auf die Spitze trieb. Der Schluss von Müllers Brummell-Analyse kann nicht ganz überzeugen. Müller fragt, »was wäre, wenn kein oder zumindest kaum ein einzelnes Individuum eine solch unabhängige, selbstkontrollierte und verantwortungsethische Selbstkonstitution leisten kann?«. Hat Brummell sie nach seiner Auffassung geleistet? Ist diese überhaupt realiter zu leisten? Darüber hätte man gern etwas erfahren. Aber Müller weicht aus mit einem wissenschaftlichen Bandwurmsatz, der in dem Buch leider nicht der einzige bleibt: »Dann wäre der dandyeske Versuch, das genteele Persönlichkeitsideal allein mit ästhetischen Mitteln zu realisieren, nicht nur aus der Hybris einzelner zu erklären, sondern durch die ihm eigene Sinnstruktur als ‚Antwort’ auf den Glauben an ein Individuum, das als autonomes einzelnes Garant der gesellschaftlichen Ordnung sein und als solches seine verlorengegangene gesellschaftliche Kontur wiedererlangen soll.«

Lesenswert ist auch das sechste Kapitel »Aura der Unzulänglichkeit. Die emphatische Oberflächlichkeit Andy Warhols«. Nicht nur der Pop-Ikone Spiel mit Medien und Öffentlichkeit werden dargestellt und problematisiert. Sondern auch das jeweilige subtile Aufnehmen seines Produzierens, Äußerns, Verhaltens in das wiederum Eigene. Das macht es letztlich so schwer, das eine vom anderen zu trennen. Zugleich ist es essentieller Teil des Gesamtkunstwerkes ‚Andy Warhol’. Zahlreiche Fotos und Bilder von Warhol, die meisten stammen von ihm, begleiten den Text. Sie verdeutlichen Warhols Negation jedweder künstlerischen Autonomie und Kreativität.

Das wesentliche Ergebnis der Studie ist die Einteilung der drei untersuchten Individualitätstypen. Danach ist Brummell ein dandyesker mit verfeinert Ästhetik, das heißt mit einem »Raffinement gesellschaftlich typisierter Ausdrucksformen«. Wilde dagegen repräsentiert den exzentrischen Individualitätstypus: Seine Selbstdarstellung stand in bewusster Differenz zu gesellschaftlich typisierten Formen und Rollenfiguren. Andy Warhol repräsentiert nach Müller eine negative Ästhetik, die in einer »Verweigerung zeichenhaft-symbolischer Selbstrepräsentation« liege.

Eine Schwäche der Untersuchung ist die Perzeption der jeweils analysierten Figur ausschließlich im Fenster ihrer Zeit. Bedeutsam wäre gerade bei den großen Selbstdarstellern, um nicht zu sagen Dandys, die Berücksichtigung von Rückblick, Interpretation und eventueller Berufung der Figuren auf ihre Vorläufer. So ist von Oscar Wilde bekannt, dass er sich mit Brummell beschäftigt hat. Otto Mann hat in seiner noch heute maßgeblichen Doktorarbeit bei Karl Jaspers »Der moderne Dandy – Ein Kulturproblem des 19. Jahrhunderts« (1926) geschrieben, der Dandy »will aufhören, an einer Zeit zu leiden, die er verachtet; er durchdenkt seine Machtmittel und faßt den Plan, die Gesellschaft durch ihre eigenen Gesetze zu schlagen«. Diese Gesetze waren im Regency, wo die Mode herrschte, andere als im prüden viktorianischen England Wildes. Hier bleibt die Untersuchung lückenhaft, sieht Müller beispielsweise nicht, dass Wilde anfänglich auch von vielen Londonern kopiert worden ist. Schaut man sich die Rollenfiguren aus dieser Perspektive an, ergeben sich bedeutende Perzeptionsmarken, die Müller auslässt. Mann kommt zum Ergebnis, trotz gegensätzlichen ersten Anscheines habe Wilde das Dandytum im 19. Jahrhundert wiederbelebt. Die Gemeinsamkeit der drei Rollen ist deren Wille, »in einem Akt kultureller Realisation«, wie es Mann formuliert, »über die begrenzte Gültigkeit« ihres Ichs zu erheben. Dieses Selbst wird nun zum »Verwirklicher von Ideen, die an der Zeit sind für ein höher[es] Allgemeines«. So sind es möglicherweise die bislang nur punktuell analysierten Gemeinsamkeiten von Brummell, Oscar Wilde, Ernst Jünger, Karl Lagerfeld und anderen dandyesken Persönlichkeiten, die zukünftige Generationen beschäftigen werden.

geschrieben am 17.07.2009 | 784 Wörter | 5280 Zeichen

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