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Fress-Schach


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Rezension von

Thierry Elsen

Fress-Schach Eine Rezension über einen „bulgarischen Winterkrimi“ mit einer Aussage von Henning Mankell zu beginnen ist nicht gerade originell und leuchtet auch nur bedingt ein. Doch Mankells Aussage, dass er als Autor etwas sehr Altes mache, indem er auf die Gesellschaft durch den Spiegel des Verbrechens sehe und dass seine Geschichten von der Gesellschaft und der Zeit in der er lebe handeln, trifft auf viele andere Krimis im Allgemeinen und auf „Fress-Schach“ von Carina Nekolny im Besonderen zu. Der Titel des Krimis ist dann auch Ablenkung und Anleitung zugleich. Schach und Bulgarien bilden keinen wirklichen Widerspruch und die Kriminalfallmetapher „Fress-Schach“ suggeriert, dass es eine Menge Opfer geben wird. Der bulgarische Winterkriminalfall ist rasch erzählt. Drei vornehmlich ältere honorige Professoren, die alle liebevoll-verächtlich als „Zauseln“ bezeichnet werden, sterben den großen Tod, bevor sie den kleinen erleben durften. Sie werden nackt, glücklich und - im wahrsten Sinne des Wortes - steif aufgefunden. Zu dem illustren Trio gesellt sich noch ein mafiöser Chauffeur, der das Zeitliche deutlich weniger glücklich segnet. Ein typischer Kollateralschaden halt; ein richtiges „Bauern-“opfer, um bei der Schachmetapher zu bleiben. Die Motive für die Morde liegen – und das macht die eigentliche Spannung des Buches aus – ebenso im Dunkeln, wie die Tat selbst. Es ist für die handelnden Personen (nicht für die Leser*innen) lange Zeit sogar unklar, ob es sich überhaupt um Morde handelt. Der ermittelnde Kommissar, eine Art bulgarischer Stoiker mit humanistischen Prinzipien und einer gewissen Homophobie, erarbeitet einen Haufen Hypothesen; doch krimigeschulte Leser*innen wissen: Ohne klares Motiv, Tatwaffe und ohne wirkliche Verdächtige, wird es auch schwer für den stoischen bulgarischen Kommissar, einen Mörder oder eine Mörderin zu überführen. Dass Kriminalfälle und Wissenschaft durchaus Gemeinsamkeiten haben können, liegt auf der Hand. In beiden Fällen geht es um das Aufstellen von Hypothesen und deren Falsifizierung/Verifizierung. Die zweite Ebene, die Carina Nekolny daher spielend erarbeitet, ist eine Satire auf den geistes- und sozialwissenschaftlichen Betrieb in Form von Kongressen. Der von Nekolny entworfene Kongress findet in dem kleinen Städtchen Bansko statt und trägt den klingenden Namen „Heros und Eros“, wobei der Eros im Laufe des Romans nicht zu kurz kommt – und die männlichen Kongressteilnehmer sich als „sex maniacs“ entpuppen. Die wissenschaftliche Veranstaltung mutiert zu einem Jahrmarkt – oder besser gesagt – Fegefeuer der Eitelkeiten und Eifersüchteleien. Mensch gewinnt rasch den Eindruck, dass es nicht um wissenschaftliche Erkenntnis und geistige Durchdringung der Welt geht, sondern um Karriere, persönliche Eitelkeiten und Intrigen. Es menschelt ebenso in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Würde das Meeting den Titel „Eros und Thanatos“ tragen, wäre es fast schon zu viel des Guten. Was den wissenschaftlichen Betrieb und die damit verbundene Betriebsamkeit betrifft, schöpft Nekolny als gelernte historische Anthropologin aus dem Vollen. Auch formal erinnert der Roman an einen so genannten Kongressbericht, vor allem dadurch, dass der Anhang des Buches mit einer zeitlichen Abfolge des bulgarischen Winter-Meetings, wie die Konferenz auch noch genannt wird, und einer Kurzbiographie der handelnden Personen aufwartet– sowohl das wissenschaftliche Personal der Kongressteilnehmer*innen, als auch die Vertreter der Polizei, werden aufgeführt. Fehlen nur die klassischen Fußnoten und die obligate Bibliographie um die Textsorte zu komplettieren. Die dritte Erzählebene verbindet sich spielerisch mit der zweiten. „Fress-Schach“ (warum nicht Fressschach mit drei „s“?) ist ebenfalls ein Reisebericht, der die bulgarische Seite des Dreiländerecks zwischen Bulgarien, Griechenland und Mazedonien beschreibt. Es spielen die Ortschaften Bansko, Petritsch und Blagoevgerad eine weitere markante Nebenrolle im Roman. Die Stadt Blagoevgrad gibt der Region den Namen. Wichtige Punkte, die im Buch ebenso Erwähnung finden, sind: Melnik und das Kloster Roschen. Auch das im Roman erwähnte „amerikanische historische Institut“ ist realiter als „American University of Bulgaria“ in Blagoevgrad angesiedelt . Carina Nekolny bewies bereits in ihrem Roman Yunnan, dass sie Fiktion und Reisebericht gut ineinander verweben kann. Sie wirft im Vorbeigehen einen Blick auf Land und Leute und hinterfragt, sowohl westlich-europäische als nationalistische Betrachtungsweisen.Natürlich dürfen Hinweise auf das sogenannte Zeitalter der Transformation, den Übergang vom Kommunismus zu Turbokapitalismus, nicht fehlen. Ebenso natürlich ist „Fress-Schach“ ein feministischer Krimi. Nicht nur durch die Tatsache, dass eine der zentralen Figuren, Maria Kempovski, eine konsequent gelebte Neigung für gendergerechte Personenbezeichnungen auslebt. Es geht vornehmlich um Frauen in der Welt der Wissenschaften. Zentrale Themen sind die so genannte „Gläserne Decke“ sowie die Diskussion um die Quotenregelung. Beides sind nicht nur zentrale Motive der zeitgenössischen „gender“- Diskussion, sondern werden von der Autorin eng mit dem Kriminalfall verwoben. Dabei kommt die Autorin, die ebenfalls Redakteurin der feministischen Zeitschrift AUF und Mitglied eines weiblichen Künstlerinnenkollektivs ist, ohne Verbissenheit aus. Laut Verlagsinformation geht es nicht um Blaustrumpfigkeit und feministische Überkorrektheit. Nekolny dazu: „Nicht das Pathos früher Frauenbewegungsjahre, sondern der selbstironische Blick auf die Errungenschaften des Kampfes um Geschlechteregalität, für die vieles selbstverständlich geworden ist, ist das Anliegen des Krimis. Erst wenn frau über etwas schmunzeln kann, ist es nicht mehr in Gefahr.“ Ein Stilmittel, das zum Schmunzeln anregt, ist das Mittel der Übertreibung. Die männlichen Vertreter sind entweder asexuell und umarmen früh morgens im winterlichen Wald am liebsten Bäume oder entpuppen sich hinter der Fassade der wissenschaftlichen Korrektheit als wahre „sexmaniacs“. Freilich bedarf es als Mann auch der Fähigkeit die Übertreibungen zu verstehen und gegebenenfalls „zu schmunzeln“. Der formale Aufbau des Buches ist ein ziemliches Experiment. Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal werden verschiedene Gattungen und Textsorten bedient, gerührt und fast schon durcheinander geschüttelt. Mensch könnte den Aufbau mit einer Art Zwiebel vergleichen: Prolog und Epilog präsentieren eine Ich-Erzählerin, die im ersten Satz schon darauf hinweist, dass sie nicht die Täterin sei. Sie bilden die Außenhaut der Erzählzwiebel. Die nächsten Schichten bestehen aus dem Kriminalfall. Die Morde finden relativ bald statt, die großflächig angelegten Verhöre jedoch relativ spät im Roman. Im Kern – sprich kurz vor der Hälfte des Romans - befinden sich die Erzählungen zum wissenschaftlichen Betrieb. Der Kriminalfall ummantelt und durchdringt quasi die oben erwähnten Ebenen und die zahlreichen Rückblenden und Erzähler*innenwechsel können die geneigten Leser*innen ein wenig verwirren. Die sehr kurzen Kapitel animieren zur schnellen Lektüre. Leser*innen, die versuchen wollen den Roman ohne die Hilfestellung des Anhangs zu lesen und so das Geflecht der Erzähler*innen und handelnden Personen zu entwirren, empfehle ich daher, auch mehrere der Kurzkapitel zügig hintereinander zu lesen. Ansonsten ist der Rückgriff auf die zusätzlichen biographischen Angaben zu den einzelnen Figuren und zur zeitlichen Abfolge fast zwingend. Beruhigend ist nur, dass es der Autorin nicht anders ging als mir als Leser*in. Aus einer Helena Konstantinova wurde eine Helena Doskolova (Seite 185), aber der Anhang konnte auch dieses Missverständnis leicht auflösen. Das ist natürlich auch eine Frage des Lektorats. Allerdings sind kleinere Missgeschicke zu verzeihen. Fast schon unentschuldbar finde ich, dass der KITAB-Verlag auf seiner Website wesentliche Informationen zur Lösung des Kriminalfalls anbietet...Aber auch das kann eine Form von Appetizer sein. Für die Anhänger*innen der postmodernen Zitatsuchspiele hält die Autorin auch das eine oder andere bereit. Peterchens Nachtfahrt ist natürlich ein eindeutiger Verweis auf eine literarische Quelle. Ebenso „die Untersuchungen, nicht nur an Mädeln“. Die Verneigung vor dem „Kriminalprotokoll“ von Albert Drach ist durchaus ein Bezug, der einen interpretatorischen Mehrwert leisten könnte. Dass einer der hiesigen Professoren und Mordopfer nicht Georgi, so doch zumindest Ivan Dimitroff heißt, darf natürlich nicht fehlen. Und was ist nun die Schlussfolgerung? „Fress-Schach“ von Carina Nekolny ist ein Krimi, wie eine literarische Matroschka. Dies ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. Freund*innen der durchgehenden konventionell gestrickten Serientäter*innenliteratur werden wahrscheinlich doppelt enttäuscht sein: kein kriminaltechnisches Labor, keine Fingerabdrücke, keine zeitlich stringente Abfolge. Außerderm wird die Story aus mehreren Perspektive erzählt und thematisch werden etliche Nebenschauplätze bedient. Aber wie schon zu Beginn betont: Krimis sind ja durchaus Geschichten, die vielfältig erzählt werden können. Für Freund*innen eines feministisch orientierten Matroschka-Krimis, der versucht ausgetretene Pfade ein wenig zu verlassen, ist „Fress-Schach“ durchaus zu empfehlen.

Eine Rezension über einen „bulgarischen Winterkrimi“ mit einer Aussage von Henning Mankell zu beginnen ist nicht gerade originell und leuchtet auch nur bedingt ein. Doch Mankells Aussage, dass er als Autor etwas sehr Altes mache, indem er auf die Gesellschaft durch den Spiegel des Verbrechens sehe und dass seine Geschichten von der Gesellschaft und der Zeit in der er lebe handeln, trifft auf viele andere Krimis im Allgemeinen und auf „Fress-Schach“ von Carina Nekolny im Besonderen zu. Der Titel des Krimis ist dann auch Ablenkung und Anleitung zugleich. Schach und Bulgarien bilden keinen wirklichen Widerspruch und die Kriminalfallmetapher „Fress-Schach“ suggeriert, dass es eine Menge Opfer geben wird. Der bulgarische Winterkriminalfall ist rasch erzählt. Drei vornehmlich ältere honorige Professoren, die alle liebevoll-verächtlich als „Zauseln“ bezeichnet werden, sterben den großen Tod, bevor sie den kleinen erleben durften. Sie werden nackt, glücklich und - im wahrsten Sinne des Wortes - steif aufgefunden. Zu dem illustren Trio gesellt sich noch ein mafiöser Chauffeur, der das Zeitliche deutlich weniger glücklich segnet. Ein typischer Kollateralschaden halt; ein richtiges „Bauern-“opfer, um bei der Schachmetapher zu bleiben. Die Motive für die Morde liegen – und das macht die eigentliche Spannung des Buches aus – ebenso im Dunkeln, wie die Tat selbst. Es ist für die handelnden Personen (nicht für die Leser*innen) lange Zeit sogar unklar, ob es sich überhaupt um Morde handelt. Der ermittelnde Kommissar, eine Art bulgarischer Stoiker mit humanistischen Prinzipien und einer gewissen Homophobie, erarbeitet einen Haufen Hypothesen; doch krimigeschulte Leser*innen wissen: Ohne klares Motiv, Tatwaffe und ohne wirkliche Verdächtige, wird es auch schwer für den stoischen bulgarischen Kommissar, einen Mörder oder eine Mörderin zu überführen.

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Dass Kriminalfälle und Wissenschaft durchaus Gemeinsamkeiten haben können, liegt auf der Hand. In beiden Fällen geht es um das Aufstellen von Hypothesen und deren Falsifizierung/Verifizierung. Die zweite Ebene, die Carina Nekolny daher spielend erarbeitet, ist eine Satire auf den geistes- und sozialwissenschaftlichen Betrieb in Form von Kongressen. Der von Nekolny entworfene Kongress findet in dem kleinen Städtchen Bansko statt und trägt den klingenden Namen „Heros und Eros“, wobei der Eros im Laufe des Romans nicht zu kurz kommt – und die männlichen Kongressteilnehmer sich als „sex maniacs“ entpuppen. Die wissenschaftliche Veranstaltung mutiert zu einem Jahrmarkt – oder besser gesagt – Fegefeuer der Eitelkeiten und Eifersüchteleien. Mensch gewinnt rasch den Eindruck, dass es nicht um wissenschaftliche Erkenntnis und geistige Durchdringung der Welt geht, sondern um Karriere, persönliche Eitelkeiten und Intrigen. Es menschelt ebenso in den Geistes- und Sozialwissenschaften, wie in anderen Bereichen der Gesellschaft. Würde das Meeting den Titel „Eros und Thanatos“ tragen, wäre es fast schon zu viel des Guten. Was den wissenschaftlichen Betrieb und die damit verbundene Betriebsamkeit betrifft, schöpft Nekolny als gelernte historische Anthropologin aus dem Vollen. Auch formal erinnert der Roman an einen so genannten Kongressbericht, vor allem dadurch, dass der Anhang des Buches mit einer zeitlichen Abfolge des bulgarischen Winter-Meetings, wie die Konferenz auch noch genannt wird, und einer Kurzbiographie der handelnden Personen aufwartet– sowohl das wissenschaftliche Personal der Kongressteilnehmer*innen, als auch die Vertreter der Polizei, werden aufgeführt. Fehlen nur die klassischen Fußnoten und die obligate Bibliographie um die Textsorte zu komplettieren.

Die dritte Erzählebene verbindet sich spielerisch mit der zweiten. „Fress-Schach“ (warum nicht Fressschach mit drei „s“?) ist ebenfalls ein Reisebericht, der die bulgarische Seite des Dreiländerecks zwischen Bulgarien, Griechenland und Mazedonien beschreibt. Es spielen die Ortschaften Bansko, Petritsch und Blagoevgerad eine weitere markante Nebenrolle im Roman. Die Stadt Blagoevgrad gibt der Region den Namen. Wichtige Punkte, die im Buch ebenso Erwähnung finden, sind: Melnik und das Kloster Roschen. Auch das im Roman erwähnte „amerikanische historische Institut“ ist realiter als „American University of Bulgaria“ in Blagoevgrad angesiedelt . Carina Nekolny bewies bereits in ihrem Roman Yunnan, dass sie Fiktion und Reisebericht gut ineinander verweben kann. Sie wirft im Vorbeigehen einen Blick auf Land und Leute und hinterfragt, sowohl westlich-europäische als nationalistische Betrachtungsweisen.Natürlich dürfen Hinweise auf das sogenannte Zeitalter der Transformation, den Übergang vom Kommunismus zu Turbokapitalismus, nicht fehlen.

Ebenso natürlich ist „Fress-Schach“ ein feministischer Krimi. Nicht nur durch die Tatsache, dass eine der zentralen Figuren, Maria Kempovski, eine konsequent gelebte Neigung für gendergerechte Personenbezeichnungen auslebt. Es geht vornehmlich um Frauen in der Welt der Wissenschaften. Zentrale Themen sind die so genannte „Gläserne Decke“ sowie die Diskussion um die Quotenregelung. Beides sind nicht nur zentrale Motive der zeitgenössischen „gender“- Diskussion, sondern werden von der Autorin eng mit dem Kriminalfall verwoben. Dabei kommt die Autorin, die ebenfalls Redakteurin der feministischen Zeitschrift AUF und Mitglied eines weiblichen Künstlerinnenkollektivs ist, ohne Verbissenheit aus. Laut Verlagsinformation geht es nicht um Blaustrumpfigkeit und feministische Überkorrektheit. Nekolny dazu: „Nicht das Pathos früher Frauenbewegungsjahre, sondern der selbstironische Blick auf die Errungenschaften des Kampfes um Geschlechteregalität, für die vieles selbstverständlich geworden ist, ist das Anliegen des Krimis. Erst wenn frau über etwas schmunzeln kann, ist es nicht mehr in Gefahr.“ Ein Stilmittel, das zum Schmunzeln anregt, ist das Mittel der Übertreibung. Die männlichen Vertreter sind entweder asexuell und umarmen früh morgens im winterlichen Wald am liebsten Bäume oder entpuppen sich hinter der Fassade der wissenschaftlichen Korrektheit als wahre „sexmaniacs“. Freilich bedarf es als Mann auch der Fähigkeit die Übertreibungen zu verstehen und gegebenenfalls „zu schmunzeln“.

Der formale Aufbau des Buches ist ein ziemliches Experiment. Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal werden verschiedene Gattungen und Textsorten bedient, gerührt und fast schon durcheinander geschüttelt. Mensch könnte den Aufbau mit einer Art Zwiebel vergleichen: Prolog und Epilog präsentieren eine Ich-Erzählerin, die im ersten Satz schon darauf hinweist, dass sie nicht die Täterin sei. Sie bilden die Außenhaut der Erzählzwiebel. Die nächsten Schichten bestehen aus dem Kriminalfall. Die Morde finden relativ bald statt, die großflächig angelegten Verhöre jedoch relativ spät im Roman. Im Kern – sprich kurz vor der Hälfte des Romans - befinden sich die Erzählungen zum wissenschaftlichen Betrieb. Der Kriminalfall ummantelt und durchdringt quasi die oben erwähnten Ebenen und die zahlreichen Rückblenden und Erzähler*innenwechsel können die geneigten Leser*innen ein wenig verwirren. Die sehr kurzen Kapitel animieren zur schnellen Lektüre. Leser*innen, die versuchen wollen den Roman ohne die Hilfestellung des Anhangs zu lesen und so das Geflecht der Erzähler*innen und handelnden Personen zu entwirren, empfehle ich daher, auch mehrere der Kurzkapitel zügig hintereinander zu lesen. Ansonsten ist der Rückgriff auf die zusätzlichen biographischen Angaben zu den einzelnen Figuren und zur zeitlichen Abfolge fast zwingend. Beruhigend ist nur, dass es der Autorin nicht anders ging als mir als Leser*in. Aus einer Helena Konstantinova wurde eine Helena Doskolova (Seite 185), aber der Anhang konnte auch dieses Missverständnis leicht auflösen. Das ist natürlich auch eine Frage des Lektorats. Allerdings sind kleinere Missgeschicke zu verzeihen. Fast schon unentschuldbar finde ich, dass der KITAB-Verlag auf seiner Website wesentliche Informationen zur Lösung des Kriminalfalls anbietet...Aber auch das kann eine Form von Appetizer sein.

Für die Anhänger*innen der postmodernen Zitatsuchspiele hält die Autorin auch das eine oder andere bereit. Peterchens Nachtfahrt ist natürlich ein eindeutiger Verweis auf eine literarische Quelle. Ebenso „die Untersuchungen, nicht nur an Mädeln“. Die Verneigung vor dem „Kriminalprotokoll“ von Albert Drach ist durchaus ein Bezug, der einen interpretatorischen Mehrwert leisten könnte. Dass einer der hiesigen Professoren und Mordopfer nicht Georgi, so doch zumindest Ivan Dimitroff heißt, darf natürlich nicht fehlen.

Und was ist nun die Schlussfolgerung? „Fress-Schach“ von Carina Nekolny ist ein Krimi, wie eine literarische Matroschka. Dies ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. Freund*innen der durchgehenden konventionell gestrickten Serientäter*innenliteratur werden wahrscheinlich doppelt enttäuscht sein: kein kriminaltechnisches Labor, keine Fingerabdrücke, keine zeitlich stringente Abfolge. Außerderm wird die Story aus mehreren Perspektive erzählt und thematisch werden etliche Nebenschauplätze bedient. Aber wie schon zu Beginn betont: Krimis sind ja durchaus Geschichten, die vielfältig erzählt werden können. Für Freund*innen eines feministisch orientierten Matroschka-Krimis, der versucht ausgetretene Pfade ein wenig zu verlassen, ist „Fress-Schach“ durchaus zu empfehlen.

geschrieben am 07.08.2011 | 1272 Wörter | 8077 Zeichen

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