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Schneeblind


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  • 6820 Aufrufe

Informationen zum Buch
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Rezension von

Tim Jarmusch

Schneeblind Am Anfang steht die Hoffnung auf eine endogene Ursache. Endogen, das bedeutet von innen heraus wirkend, und wie Ertrinkende klammern sich die Eltern an diesen letzten Strohhalm. Aber es nützt nichts: Ihr Sohn, Mathias Renert, muss wegen seiner Depression in die Psychiatrie. Erst beim zweiten Anlauf fügt sich der 24-jährige Zoologie-Student, mehr aus Lethargie, denn aus Überzeugung und findet sich so zwischen gutwilligen Krankenschwestern, pharmaziegläubigen Mitinsassen und hilfsbereiten Psychiatern wieder, die vor allem eins wissen wollen: Was ist dein Problem? Dass Mathias keinen Schimmer hat, bildet die Ausgangssituation von Andreas Kecks Debütroman „Schneeblind“, der 2008 beim Berliner Periplaneta-Verlag erschienen ist. Bereits in der ersten Therapiesitzung kommt das Gespräch auf den Vater, der Leser stellt sich daruaf ein, mit dem Protagonisten gemeinsam auf Spurensuche zu gehen … Mitnichten! Denn was Keck seiner Figur als ersten Satz in den Mund legt – Ich sehe keinen Sinn darin, zu erklären, warum ich hier bin – ist kein Lippenbekenntnis; es stellt die Weichen für einen Roman, der sich nicht damit beschäftigen will, warum jemand vom „Normalen“ zum „Irren“ wird. „Schneeblind“ setzt eher darauf, die Gefühlswelt eines jungen Menschen auszuleuchten, den das Leben unvermittelt von der Gewinnerseite katapultiert hat, mitten in eine Irrenanstalt, und der kraftlos mit seiner Diagnose ringt. Geschickt spielt der Autor mit diversen Vorurteilen im Themenbereich Psychiatrie, indem er dank Mathias‘ Bestreben, sich aus der Gemeinschaft der „Irren“ auszuklammern, dem Leser ermöglicht, in den Beobachtungen des frischgebackenen Patienten eigene Denkmuster zu finden und zu reflektieren – sofern man in der Stimmung ist. Denn die unkonventionell direkte Erzählweise, in der Mathias seine psychiatrische Abstinenz vom Leben wiedergibt, polstert das zu Schwermut neigende Sujet angenehm aus und schafft Freiräume für gedankliche Bonmots und einen humorvollen Unterton – hält den Leser gleichzeitig aber auf Distanz: Gerade zu Anfang fällt es schwer, diesem Mathias Renert sein psychisches Leiden wirklich abzunehmen. Dass Protagonist und Leser trotzdem emotional aufeinandertreffen, hat denn auch weniger mit der unverblümten Klarheit, in der Mathias seine eigenen Zusammenbrüche seziert, zu tun, als mit dem Auftritt von Anna, einer hübschen, vom Wahnsinn belagerten Patientin, die Mathias in ihren Bann zieht. Die Art und Weise, wie sich die Laufbahnen der beiden zunehmend kreuzen, bis sie schließlich in einer Spirale unbegründeter Zuneigung aufeinander trudeln, ist unheimlich menschlich, weil sie dem rituellen Gehabe der „Normalen“ beim Verlieben keinen Platz einräumt und sich stattdessen auf entrückte Dialoge sowie Annas unvorhersehbares Verhalten verlässt – zu Recht. Speziell diesen Szenen aber auch den übrigen Darstellungen der Insassen ist anzumerken, dass der seit 2002 als Sozialarbeiter tätige Autor über Erfahrung im psychiatrischen Bereich verfügt und diese ohne anzuprangern oder abzuurteilen in seine Roman mit einwebt. Dass „Schneeblind“ bei so viel Menschlichkeit nicht hundertprozentig überzeugt, ist seiner unflexiblen Tonlage anzulasten: Wenn zum Beispiel Mathias‘ Schilderungen des ersten Kusses mit den Worten „Aber das klingst schon wieder fürchterlich kitschig“ zwanghaft auf locker-distanziert getrimmt werden, möchte man den Autor schütteln für diese leichtfertig vertane Gelegenheit, wenigstens für einen Moment abzuheben, und dadurch die Fallhöhe seines Protagonisten zu vergrößern. Hier grätscht der an Tommy Jaud gemahnende Erzählton der Wirkung des Buches zwischen die Beine, weil er mit seiner Vehemenz dem nötigen Maß an pointierter Poesie zu wenig Luft lässt. Alles in allem aber ein beeindruckendes, sehr bewegendes Debüt!

Am Anfang steht die Hoffnung auf eine endogene Ursache. Endogen, das bedeutet von innen heraus wirkend, und wie Ertrinkende klammern sich die Eltern an diesen letzten Strohhalm. Aber es nützt nichts: Ihr Sohn, Mathias Renert, muss wegen seiner Depression in die Psychiatrie. Erst beim zweiten Anlauf fügt sich der 24-jährige Zoologie-Student, mehr aus Lethargie, denn aus Überzeugung und findet sich so zwischen gutwilligen Krankenschwestern, pharmaziegläubigen Mitinsassen und hilfsbereiten Psychiatern wieder, die vor allem eins wissen wollen: Was ist dein Problem?

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rezensiert seit
Buchtitel
2
22.11.2012

Dass Mathias keinen Schimmer hat, bildet die Ausgangssituation von Andreas Kecks Debütroman „Schneeblind“, der 2008 beim Berliner Periplaneta-Verlag erschienen ist. Bereits in der ersten Therapiesitzung kommt das Gespräch auf den Vater, der Leser stellt sich daruaf ein, mit dem Protagonisten gemeinsam auf Spurensuche zu gehen … Mitnichten!

Denn was Keck seiner Figur als ersten Satz in den Mund legt – Ich sehe keinen Sinn darin, zu erklären, warum ich hier bin – ist kein Lippenbekenntnis; es stellt die Weichen für einen Roman, der sich nicht damit beschäftigen will, warum jemand vom „Normalen“ zum „Irren“ wird. „Schneeblind“ setzt eher darauf, die Gefühlswelt eines jungen Menschen auszuleuchten, den das Leben unvermittelt von der Gewinnerseite katapultiert hat, mitten in eine Irrenanstalt, und der kraftlos mit seiner Diagnose ringt. Geschickt spielt der Autor mit diversen Vorurteilen im Themenbereich Psychiatrie, indem er dank Mathias‘ Bestreben, sich aus der Gemeinschaft der „Irren“ auszuklammern, dem Leser ermöglicht, in den Beobachtungen des frischgebackenen Patienten eigene Denkmuster zu finden und zu reflektieren – sofern man in der Stimmung ist. Denn die unkonventionell direkte Erzählweise, in der Mathias seine psychiatrische Abstinenz vom Leben wiedergibt, polstert das zu Schwermut neigende Sujet angenehm aus und schafft Freiräume für gedankliche Bonmots und einen humorvollen Unterton – hält den Leser gleichzeitig aber auf Distanz: Gerade zu Anfang fällt es schwer, diesem Mathias Renert sein psychisches Leiden wirklich abzunehmen.

Dass Protagonist und Leser trotzdem emotional aufeinandertreffen, hat denn auch weniger mit der unverblümten Klarheit, in der Mathias seine eigenen Zusammenbrüche seziert, zu tun, als mit dem Auftritt von Anna, einer hübschen, vom Wahnsinn belagerten Patientin, die Mathias in ihren Bann zieht. Die Art und Weise, wie sich die Laufbahnen der beiden zunehmend kreuzen, bis sie schließlich in einer Spirale unbegründeter Zuneigung aufeinander trudeln, ist unheimlich menschlich, weil sie dem rituellen Gehabe der „Normalen“ beim Verlieben keinen Platz einräumt und sich stattdessen auf entrückte Dialoge sowie Annas unvorhersehbares Verhalten verlässt – zu Recht. Speziell diesen Szenen aber auch den übrigen Darstellungen der Insassen ist anzumerken, dass der seit 2002 als Sozialarbeiter tätige Autor über Erfahrung im psychiatrischen Bereich verfügt und diese ohne anzuprangern oder abzuurteilen in seine Roman mit einwebt.

Dass „Schneeblind“ bei so viel Menschlichkeit nicht hundertprozentig überzeugt, ist seiner unflexiblen Tonlage anzulasten: Wenn zum Beispiel Mathias‘ Schilderungen des ersten Kusses mit den Worten „Aber das klingst schon wieder fürchterlich kitschig“ zwanghaft auf locker-distanziert getrimmt werden, möchte man den Autor schütteln für diese leichtfertig vertane Gelegenheit, wenigstens für einen Moment abzuheben, und dadurch die Fallhöhe seines Protagonisten zu vergrößern. Hier grätscht der an Tommy Jaud gemahnende Erzählton der Wirkung des Buches zwischen die Beine, weil er mit seiner Vehemenz dem nötigen Maß an pointierter Poesie zu wenig Luft lässt.

Alles in allem aber ein beeindruckendes, sehr bewegendes Debüt!

geschrieben am 22.11.2012 | 533 Wörter | 3246 Zeichen

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