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Projekt Europa Eine kritische Geschichte


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Rezension von

Dr. Sebastian Felz

Projekt Europa Eine kritische Geschichte Alles begann mit einer Briefmarke. Kiran Klaus Patel, heute Professor für Europäische und Globale Geschichte an der Universität Maastricht, fieberte 1982 als Zehnjähriger einer Sondermarke der Deutschen Bundespost entgegen. Für den Mai 1982 war eine Gedenkmarke zum Jahrestag der Römischen Verträge angekündigt worden. Der junge historisch interessierte Patel freute sich auf eine Briefmarke mit einem Motiv aus der Zeit des „imperium romanum“. Umso enttäuschter war er, als zum 25-jährigen Jubiläum der Gründungsverträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur die Namen der vertragsschließenden Staatsoberhäupter sowie Nationalflaggen der Vertragsstaaten auf dem Postwertzeichen für 60 Pfennige zu sehen war. Mit diesem (oft ernüchternden Abgleich) von Vorstellung und Wirklichkeit arbeitet auch Patels Analyse der Entwicklung der EG/EU in den letzten sechs Jahrzehnten. „Europa und die europäische Integration“, „Frieden und Sicherheit“, „Wirtschaftswachstum und Wohlstand“, „Partizipation und Technokratie“, „Werte und Normen“, „Bürokratisches Monster oder nationales Instrument“ sowie die „Gemeinschaft und die Welt“ sind die acht Schritte dieser Annäherung überschrieben. Zunächst widmet sich Patel dem institutionellen Umfeld der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er-Jahren. Ende der 1940er bzw. Anfang der 1950er-Jahre war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl eine unter vielen supernationalen Organisationen in Europa. Die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die OECD oder der Europarat wären als Beispiele zu nennen. Insgesamt kümmerten sich ca. 20 Zusammenschlüsse um die wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegseuropa. Die Montanunion war eine der kleinsten überstaatlichen Zusammenschlüsse. Die EGKS entstand 1951, also zu einer Zeit, in der der beginnende Kalte Krieg die Spielräume in Europa verengte. Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen war die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland Gründungsmitglied der EGKS. Dafür fehlten aber die skandinavischen Länder und das Vereinigte Königreich. 1957 kam die Europäische Wirtschaftsunion und Euratom hinzu. Allerdings scheiterten 1954 durch das Votum der französischen Nationalversammlung die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft. In einer Art zweiten „EG“ fanden sich 1960 die Schweiz, Österreich, Großbritannien und die skandinavischen Länder zur Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) zusammen. Was aber waren die entscheidenden Faktoren, welche die EG zur bestimmenden Kraft in Westeuropa seit den 1970er-Jahren werden ließ? Patel identifiziert derer drei. Zunächst die Konzentration auf die Zollunion und den Binnenmarkt. Die Herstellung eines Binnenmarktes wirkte auch auf andere Politikbereiche harmonisierend. Berufsausbildungen. soziale Sicherungssysteme, Umweltschutz und technische Standards mussten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, angepasst werden. Schließlich entwickelte sich wegen des Zusammenbruchs des internationalen Währungssystems von Bretton-Woods 1973 die Idee einer Währungsunion. Ein besonderer Bereich der vergemeinschaften Politik war und ist der Agrarsektor. Die protektionistische Politik verbunden mit hohen Subventionen stuft Patel als eine besondere Art der Sozialpolitik ein. Die Landwirtschaft wurde behutsamer durch den Strukturwandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt als beispielsweise die europäische Textilindustrie. Ein weiterer wichtiger Integrationsfaktor war das Recht. Patel spricht hier von einer „Mikrophysik des Rechts“, nach deren Kraftlehre die einzelnen Wirtschaftsakteure mit der Durchsetzung der Grundfreiheiten (Waren, Dienstleistungen, Arbeitnehmer und Kapital) zu Agenten der Integration mithilfe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes wurden. Schon 1963 judizierte das Gericht, dass das Recht der Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstelle, auf die sich auch der einzelne Bürger berufen könne (van Gend & Loos). Ein Jahr später entschied das Gericht, dass das Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang vor den nationalen Rechtsordnungen genieße (Costa vs. Enel). Den zweiten Schub bekam die europäische Integration durch die Fortbildung des Gemeinschaftsrechts in den 1970er-Jahren. Der EuGH entschied 1979, dass ein Erzeugnis (hier Johannisbeerlikör) im Binnenmarkt frei gehandelt werden kann, wenn es in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden war (Cassis de Dijon). Schon 1974 hatten die Richter in Luxemburg klargestellt, dass jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als handelsbeschränkende Maßnahme anzusehen sei (Dassonville). Einen weiteren Schub gab das Recht der europäischen Integration im Bereich der Produktsicherheit und des Arbeitsschutzes. Die „Neue Konzeption“ der 1980er-Jahre strebte keine Detailharmonisierung von Produkten mehr an, da diese nur in langwierigen Verfahren in Rechtsaktform gebracht werden konnte, sondern der europäische Gesetzgeber formulierte in Richtlinien Mindeststandards, welche durch technische Standards in Form von Normen ausgefüllt werden sollten. Damit wurde ein Verfahren geschaffen, das sehr viel schneller auf den technischen Fortschritt reagieren konnte. Neben der Konzentration auf das Feld der Wirtschaft und den günstigen rechtlichen Wirkungen auf die Integration hebt Patel vor allem die großen finanziellen Ressourcen als entscheidenden Vorteil für die EG hervor. Der Haushalt der EG war im Gegensatz zu den finanziellen Mitteln der OECD oder des Europarates beachtlich. In Bezug auf ihre Funktion als Friedensmacht ist das Urteil von Patel gespalten. Er verweist darauf, dass die Gemeinschaft im Kalten Krieg eindeutig zum westlichen Block gehörte. Blockfreie Staaten, wie z. B. Österreich, traten erst nach 1990 der EG/EU bei. Während des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien brachten die „Europäer“ keine friedensstiftende Initiative zustande. Jedoch darf, dies unterstreicht Patel ausdrücklich, die Wirkung des „Binnenfriedens“ unter den Mitgliedstaaten nicht unterschätzt werden. Was die Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft als Wohlstandsfaktor angeht, so konstatiert Patel, dass es viele Behauptungen, aber wenige Beweise dazu gibt. Patel kann aber zeigen, dass nach dem Nachkriegswirtschaftsboom, der in den 1970er-Jahre zu Ende ging, die EG eine stabilisierende Wirkung hatte. Andernfalls wäre der Abschwung noch stärker ausgefallen. In den Zeiten des bevorstehenden Brexits sind insbesondere die Passagen über die „Austritte“ von Algerien (1962) und Grönland (1985) aus der Gemeinschaft überraschend und hochinteressant. Ein Austritt, so Patel, sei mitnichten mit einem Rückgewinn an Souveränität gleichzusetzen, denn auf den Austritt folgte ein dichtes Geflecht von Nachfolgeverträgen und fortgesetzten wirtschaftlichen Beziehungen. Soweit sich die EU als Wertegemeinschaft verstehe (vgl. Artikel 2 EUV), so zeigt Patel eindrucksvoll an den Assoziierungsverhandlungen mit den Diktaturen Spanien und Griechenland in den 1950er- und 1960er-Jahren sowie den Verhandlungen mit den „Entwicklungsländern“, überwiege die „realpolitische“ Seite der Gemeinschaft die werteorientierte Politik. Schließlich beschreibt Patel die facettenreichen Beziehungen der Gemeinschaft zu den USA, Japan, China und Afrika in häufig überraschenden Perspektiven. Kiran Klaus Patel zeigt, dass manche Grundannahmen revidiert werden müssen, und einige gegenwärtige Probleme schon früheren Generationen vertraut waren und von ihnen gelöst wurden. Ein historisch-analytischer Kassensturz der Vergangenheit, der gegenwärtig helfen kann, die Zukunft der Union zu gestalten.

Alles begann mit einer Briefmarke. Kiran Klaus Patel, heute Professor für Europäische und Globale Geschichte an der Universität Maastricht, fieberte 1982 als Zehnjähriger einer Sondermarke der Deutschen Bundespost entgegen. Für den Mai 1982 war eine Gedenkmarke zum Jahrestag der Römischen Verträge angekündigt worden. Der junge historisch interessierte Patel freute sich auf eine Briefmarke mit einem Motiv aus der Zeit des „imperium romanum“. Umso enttäuschter war er, als zum 25-jährigen Jubiläum der Gründungsverträge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur die Namen der vertragsschließenden Staatsoberhäupter sowie Nationalflaggen der Vertragsstaaten auf dem Postwertzeichen für 60 Pfennige zu sehen war.

Mit diesem (oft ernüchternden Abgleich) von Vorstellung und Wirklichkeit arbeitet auch Patels Analyse der Entwicklung der EG/EU in den letzten sechs Jahrzehnten. „Europa und die europäische Integration“, „Frieden und Sicherheit“, „Wirtschaftswachstum und Wohlstand“, „Partizipation und Technokratie“, „Werte und Normen“, „Bürokratisches Monster oder nationales Instrument“ sowie die „Gemeinschaft und die Welt“ sind die acht Schritte dieser Annäherung überschrieben.

Zunächst widmet sich Patel dem institutionellen Umfeld der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er-Jahren. Ende der 1940er bzw. Anfang der 1950er-Jahre war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl eine unter vielen supernationalen Organisationen in Europa. Die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die OECD oder der Europarat wären als Beispiele zu nennen. Insgesamt kümmerten sich ca. 20 Zusammenschlüsse um die wirtschaftliche Entwicklung im Nachkriegseuropa. Die Montanunion war eine der kleinsten überstaatlichen Zusammenschlüsse. Die EGKS entstand 1951, also zu einer Zeit, in der der beginnende Kalte Krieg die Spielräume in Europa verengte. Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen war die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland Gründungsmitglied der EGKS. Dafür fehlten aber die skandinavischen Länder und das Vereinigte Königreich.

1957 kam die Europäische Wirtschaftsunion und Euratom hinzu. Allerdings scheiterten 1954 durch das Votum der französischen Nationalversammlung die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft. In einer Art zweiten „EG“ fanden sich 1960 die Schweiz, Österreich, Großbritannien und die skandinavischen Länder zur Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) zusammen.

Was aber waren die entscheidenden Faktoren, welche die EG zur bestimmenden Kraft in Westeuropa seit den 1970er-Jahren werden ließ? Patel identifiziert derer drei. Zunächst die Konzentration auf die Zollunion und den Binnenmarkt. Die Herstellung eines Binnenmarktes wirkte auch auf andere Politikbereiche harmonisierend. Berufsausbildungen. soziale Sicherungssysteme, Umweltschutz und technische Standards mussten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, angepasst werden. Schließlich entwickelte sich wegen des Zusammenbruchs des internationalen Währungssystems von Bretton-Woods 1973 die Idee einer Währungsunion.

Ein besonderer Bereich der vergemeinschaften Politik war und ist der Agrarsektor. Die protektionistische Politik verbunden mit hohen Subventionen stuft Patel als eine besondere Art der Sozialpolitik ein. Die Landwirtschaft wurde behutsamer durch den Strukturwandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt als beispielsweise die europäische Textilindustrie.

Ein weiterer wichtiger Integrationsfaktor war das Recht. Patel spricht hier von einer „Mikrophysik des Rechts“, nach deren Kraftlehre die einzelnen Wirtschaftsakteure mit der Durchsetzung der Grundfreiheiten (Waren, Dienstleistungen, Arbeitnehmer und Kapital) zu Agenten der Integration mithilfe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes wurden. Schon 1963 judizierte das Gericht, dass das Recht der Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstelle, auf die sich auch der einzelne Bürger berufen könne (van Gend & Loos). Ein Jahr später entschied das Gericht, dass das Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang vor den nationalen Rechtsordnungen genieße (Costa vs. Enel). Den zweiten Schub bekam die europäische Integration durch die Fortbildung des Gemeinschaftsrechts in den 1970er-Jahren. Der EuGH entschied 1979, dass ein Erzeugnis (hier Johannisbeerlikör) im Binnenmarkt frei gehandelt werden kann, wenn es in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in Verkehr gebracht worden war (Cassis de Dijon). Schon 1974 hatten die Richter in Luxemburg klargestellt, dass jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als handelsbeschränkende Maßnahme anzusehen sei (Dassonville).

Einen weiteren Schub gab das Recht der europäischen Integration im Bereich der Produktsicherheit und des Arbeitsschutzes. Die „Neue Konzeption“ der 1980er-Jahre strebte keine Detailharmonisierung von Produkten mehr an, da diese nur in langwierigen Verfahren in Rechtsaktform gebracht werden konnte, sondern der europäische Gesetzgeber formulierte in Richtlinien Mindeststandards, welche durch technische Standards in Form von Normen ausgefüllt werden sollten. Damit wurde ein Verfahren geschaffen, das sehr viel schneller auf den technischen Fortschritt reagieren konnte.

Neben der Konzentration auf das Feld der Wirtschaft und den günstigen rechtlichen Wirkungen auf die Integration hebt Patel vor allem die großen finanziellen Ressourcen als entscheidenden Vorteil für die EG hervor. Der Haushalt der EG war im Gegensatz zu den finanziellen Mitteln der OECD oder des Europarates beachtlich.

In Bezug auf ihre Funktion als Friedensmacht ist das Urteil von Patel gespalten. Er verweist darauf, dass die Gemeinschaft im Kalten Krieg eindeutig zum westlichen Block gehörte. Blockfreie Staaten, wie z. B. Österreich, traten erst nach 1990 der EG/EU bei. Während des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien brachten die „Europäer“ keine friedensstiftende Initiative zustande. Jedoch darf, dies unterstreicht Patel ausdrücklich, die Wirkung des „Binnenfriedens“ unter den Mitgliedstaaten nicht unterschätzt werden.

Was die Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft als Wohlstandsfaktor angeht, so konstatiert Patel, dass es viele Behauptungen, aber wenige Beweise dazu gibt. Patel kann aber zeigen, dass nach dem Nachkriegswirtschaftsboom, der in den 1970er-Jahre zu Ende ging, die EG eine stabilisierende Wirkung hatte. Andernfalls wäre der Abschwung noch stärker ausgefallen.

In den Zeiten des bevorstehenden Brexits sind insbesondere die Passagen über die „Austritte“ von Algerien (1962) und Grönland (1985) aus der Gemeinschaft überraschend und hochinteressant. Ein Austritt, so Patel, sei mitnichten mit einem Rückgewinn an Souveränität gleichzusetzen, denn auf den Austritt folgte ein dichtes Geflecht von Nachfolgeverträgen und fortgesetzten wirtschaftlichen Beziehungen.

Soweit sich die EU als Wertegemeinschaft verstehe (vgl. Artikel 2 EUV), so zeigt Patel eindrucksvoll an den Assoziierungsverhandlungen mit den Diktaturen Spanien und Griechenland in den 1950er- und 1960er-Jahren sowie den Verhandlungen mit den „Entwicklungsländern“, überwiege die „realpolitische“ Seite der Gemeinschaft die werteorientierte Politik.

Schließlich beschreibt Patel die facettenreichen Beziehungen der Gemeinschaft zu den USA, Japan, China und Afrika in häufig überraschenden Perspektiven. Kiran Klaus Patel zeigt, dass manche Grundannahmen revidiert werden müssen, und einige gegenwärtige Probleme schon früheren Generationen vertraut waren und von ihnen gelöst wurden. Ein historisch-analytischer Kassensturz der Vergangenheit, der gegenwärtig helfen kann, die Zukunft der Union zu gestalten.

geschrieben am 10.03.2019 | 988 Wörter | 6743 Zeichen

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