ISBN | 3936384479 | |
Autor | Michael von Schwelien | |
Verlag | Mare | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 210 | |
Erscheinungsjahr | 2004 | |
Extras | - |
Der Doppelsinn geht einem erst im Laufe der Lektüre auf. Der auf den ersten Blick befremdende Titel des 2004 erschienenen Buches des ehemaligen „Zeit“-Redakteurs Michael Schwelien zur europäischen Einwanderungspolitik und Immigration ist eine absichtsvolle Verkehrung der volkstümelnden Stammtischparole: \"Das Boot ist voll\" ist wörtlicher zu verstehen, als man das zunächst meinen möchte. Denn kaum abzuschätzen ist die Zahl der Frachter, die mit der Ware „Flüchtling“ an Bord über das Mittelmeer Kurs nehmen aufs \"gelobte Land\" der Schengen-Staaten. Kaum abzuschätzen, wie viele es erreichen, wie viele unterwegs auf der Strecke bleiben. Das Aufflackern des Medieninteresses, das etwa den \"boat people\" durch die heftig diskutierte Rettungsaktion der Cap Anamur im Juli des Jahres 2004 – kurz nach Erscheinen des Buches zuteil wurde – , war kurz. Es gab den Fernsehzuschauern aber einen Einblick in das elende Schicksal der vom Schrecken der Armut aus ihrer Heimat Vertriebenen und einen Eindruck davon, wie die \"Festung Europa\" sich ihrer erwehrt. Das Boot, das da vor der Küste Europas treibt, war und ist zum Bersten voll. Der unbeteiligte Beobachter innerhalb der Festungsmauern reagiert auf solche Bilder – wenn sie ihn überhaupt noch erreichen – in der Regel damit, den Blick abzuwenden oder die eigenen Ängste zu rationalisieren.
Es ist ein Vorzug von Schweliens Buch, sich des Schicksals gerade derer anzunehmen, deren Aufenthaltsrecht fast ausnahmslos bestritten wird: Flüchtlinge, die nicht wegen politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung Asyl suchen, sondern die die Aussicht auf einen kläglichen Anteil am Reichtum nach Europa treibt. Ihnen gibt Schwelien ein Gesicht, ein Schicksal. Er macht sie zu Individuen. Er zeichnet ein Bild der politischen Taktiken und Strategien der EU in diesem \"Krieg des dritten Jahrtausends\" – der fortschreitenden Abschaffung von Binnengrenzen, der eine umso verbissenere Abschottung der Außengrenzen folgte. Und er zeigt auch das Ringen und die Strapazen derer, die unmittelbar an den Frontlinien dieses Kampfes stehen: Er begleitet den italienischen Grenzschützer General Sbarra im Kampf gegen skrupellose Schlepperbanden auf dem Meer. Er legt anhand der täglichen Arbeit des \"Finanzieri\" exemplarisch das verzweigte System des internationalen Menschenhandels offen, in dessen Bahnen das Geschäft mit der Ware \"Flüchtling\" floriert. Zwischen die Mühlsteine von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung geraten immer wieder die Flüchtlinge. Ihr Los entscheidet sich zumeist zwischen Ausbeutung und Abschiebung.
Schwelien erzählt auch die Geschichte der deutschen Ordensschwester Lea Ackermann, deren Organisation SOLWODI aufgegriffenen illegalen Prostituierten Rechtsbeistand leistet und versucht, diesen Frauen in ihren Heimatländern eine eigenständige Existenz zu ermöglichen.
Ihr Engagement für ein menschenwürdiges Dasein wirkt aussichtslos und vergeblich gegen die unheilige Allianz von Menschenhändlern, der \"Nachfrage\" nach Prostitution in den reichen Industrieländern und einer juristischen Praxis, die den Opfer kaum einen Ausweg aus ihrem rechtlosen Zustand biete – den moderner Sklaverei mitten im heutigen Europa.
Es ist eine beklemmende Spannung, die Schwelien über die Kapitel des Buches hin aufbaut: Sie liegt in dem Widerspruch zwischen dem erzeugten Mitgefühl mit den Flüchtlingen und der betonten Notwendigkeit der Abschottung gegen sie – oder wie er es selbst nennt: zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz. Eigenartiger noch, wie er diese Spannung zu lösen versucht. Der zugleich zurückhaltende und eindringliche Ton seiner Schilderung, durch den er den Leser umso eindringlicher für die Biographien zu sensibilisieren vermag, verkehrt sich schließlich zur Begleitmusik eines schicksalhaften Kampfes zwischen denen, die gegen die Festung anrennen und jenen, die sie verteidigen. Es ist, als stünden wir vor einer tragischen Verstrickung, in der das Scheitern unvermeidlich ist.
Vielleicht ist diese Einschätzung der Grund, weshalb sein Appell für ein Überdenken der Leitlinien der zeitgenössischen Zuwanderungspolitik einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Es ist die eine Sache, wenn der Autor pragmatisch die geregelte Einwanderung als möglichen Ausgleich des demographischen Faktors anführt oder erklärt, dass durch die Legalisierung von Arbeitsimmigranten der Druck auf die sozialen Sicherungssysteme abgefedert werden könnte. Eine ganz andere Sache ist es hingegen, wenn er meint, solche – letztlich sozialtechnologischen – Maßnahmen würden eine ganz neue Legitimationsgrundlage des moralischen Urteils über Flüchtlingsschicksale begründen können. Schwelien offenbart in seiner Abschlussbetrachtung einen fast schon zynischen Zug, der so gar nicht zur vorhergehenden Dramaturgie seines Buches passen mag. \"Dann kann man andere Leute fernhalten – aus einem ganz anderen moralischen Impetus.\", gab er – ebenso lapidar wie fehlschlüssig – in einem 3sat – Interview auf die Frage nach den Vorteilen einer modernen Zuwanderungspolitik zur Antwort. Wenn letztlich allein nach dem Grundsatz des ökonomischen Nutzens der Aufnahmeländer über Immigration entschieden werden soll, fragt man sich in der Tat, wozu dieses Buch geschrieben wurde.
geschrieben am 29.09.2009 | 723 Wörter | 4600 Zeichen
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