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MERKUR: Dekadenz – Kein Wille zur Macht


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

MERKUR: Dekadenz – Kein Wille zur Macht Was ist dekadent? Was bedeutet Dekadenz? Geht man durch die Straßen Berlins und stellt sich diese Fragen, macht man interessante Erfahrungen. Eigentlich ist hier alles dekadent, ist man gewillt herauszuschreien. Die schlechte Kleidung im öffentlichen Raum, die architektonischen Sünden – selbst in den feinsten Zehlendorfer Villenvierteln – die Aufzählung kann das meiste umfassen, dessen man wahrnimmt. Eine Steigerung der deutschen gegenwärtigen Dekadenz liegt noch in einer Art Common sense. Alle wollen scheinbar gleich sein. Die meisten Deutschen haben panische Angst, auch nur im Ansatz irgendwie ein wenig anders zu wirken. Man sieht das so schön an den Autos. Es gibt Modefarben, und in denen werden die Autos geordert. Es war eine Zeitlang Schwarz-Metallic, gefolgt von Silber-Metallic. Jetzt kommt vielleicht Weiß. Doch das verlangt Mut, und den haben die wenigsten. Also doch lieber wieder Schwarz. Ist man wirtschaftlich einigermaßen erfolgreich, ist’s die Mercedes-S-Klasse. Denn dabei kann man nichts verkehrt machen. Hat man Glück gehabt und geerbt oder ein Deal an der Börse hat geklappt, stellt man das zur Schau. Aber nur ein bischen. Will sagen: Jeder soll den Wohlstand sehen. Aber man tut so, als wolle man diesen gerade nicht präsentieren. Dafür gibt es den Porsche Cayenne. Das interessante nun ist, dass sich letztlich alle wiederfinden, wiederfinden wollen. Das macht man deutlich durch kleine Symbole, wie den Sylt-Aufkleber am Heck. Hat man nur wenig Geld, ist das Schwarz-Metallic-Auto halt ein Lupo. Merkt doch keiner. Warum eigentlich kein Mallorca-Aufkleber? Der Herausgeber des MERKUR-Sonderheftes »Dekadenz – kein Wille zur Macht«, Karl Heinz Bohrer, bringt ein wunderbares Beispiel für Dekadenz in einem unserer europäischen Nachbarstaaten. Das Verhalten der britischen Marine und ihrer Angehörigen während und nach der Gefangennahme durch die iranische Marine in national unbestimmten Gewässern. Nachdem die Royal Navy-Mitglieder keinen Widerstand gegen ihre Festsetzung geleistet hatten, kooperierten sie auch noch mit dem iranischen Militär, für das diese Aktion ein gelungener Propaganda-Coup wurde. Doch damit noch längst nicht genug. Die Soldaten ließen sich anschließend in den Massenmedien tränenreich aus. Erst als es zu spät war, unterband die Militärführung das unwürdige und jegliche Geheimhaltung hohnsprechende Schauspiel. Wer den Begriff URBANITÄT seelisch mit Leben erfüllt, der hat in Deutschland seine liebe gute Not. Nicht zufällig lebt Bohrer in Paris. Der emeritierte Literaturprofessor gehört zu den intellektuellen Spitzenköpfen der deutschen Publizistik. Ein exzellenter Kenner Ernst Jüngers und Charles Baudelaires, kreist sein eigenes Oevre um die Essenz des Schönen, um Ästhetik und Stil. Sein Beitrag in dieser furiosen MERKUR-Nummer hat nur einen Fehler, wenn man das so nennen darf: Er ist zu kurz, - gemessen an der Lesefreude, die das intellektuelle Fechten Zeile für Zeile macht. Bohrer appelliert, »die belasteten nietzeanischen Begriffe Willen und Macht mit Luhmann systemtheoretisch abzukühlen, denn wer auf Macht verzichtet, verzichtet auf Politik. Das aber wäre eine Form der Dekadenz, die weit über den Verlust von Größenphantasien hinausginge.« Alle Beiträge dieser wiederum meilensteinischen Doppelnummer können hier nicht erwähnt werden. Besonders hervorgehoben sei der Aufsatz vom »Dandy der Medientheorie« (»Der Spiegel«) Norbert Bolz über Religion in einer dekadenten Gesellschaft. In der westlichen Welt habe sich eine »Ökumene der Ängstlichen« formiert, die Schützenhilfe von engagierten Wissenschaftlern bekomme: »Das läuft dann so: Erfindung einer Krise – Forschung – Finanzierung der Forschung – politische Organisation – ‚scientific bias’ (zu deutsch: man findet immer, was man erwartet.)« Uwe Simson, 1936 geborener ehemaliger Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, stößt mit seinem Aufsatz über Oswald Spengler ins Bohrersche Horn, wenn er diesen Historiker und politischen Philosophen, den der heutige Kulturbetrieb für desavouiert hält, zitiert: »Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen«. Das musste Joschka Fischer auch lernen. Sein Beitrag ist ein Plädoyer für eine Renaissance dieses deutschen Denkers, dessen Nachlass der Ordnung und systematischen Veröffentlichung harrt. Auch das ist Dekadenz, lieber C.H. Beck-Verlag! Last but not least Ulf Poschardts großartige Eloge auf den Stil. Einzelne Sätze würde man am liebsten laut vorlesen. Zelebrieren. Ob im bestimmten Caféhaus, wo es nur ums Sehen-und-Gesehenwerden geht, oder auf einem beliebigen öffentlichen Platz. »Kurt Beck, der SPD-Vorsitzende, trägt Flechtslipper.« Dieser Satz ist nicht nur deshalb schön, weil wir noch einmal Nachhilfe bekommen. Äh, wer war nochmal dieser Kurt Beck? Dieser Satz bringt es auf den Punkt: Die fortschreitende Proletarisierung aller Lebensbereiche, den Niedergang der Institutionen. Zum Lautlesen: »Das Parlament ist eine Versammlung von Abscheulichkeiten. Es lohnt nicht, darüber zu jammern. Die Stillosigkeit der gebildeten Mittelschicht, ob sie nun SPD wählt, grün oder Union, ist Kainsmal mangelnden gesellschaftlichen Ehrgeizes sowie einer Verachtung der Öffentlichkeit. Es ist eine Wurschtigkeit, die als Neobiedermeier die Abkehr der Mitverantwortung für die Zivilisiertheit des öffentlichen Raumes bedeutet. Stil ist keine Geldfrage, es ist eine Frage von Haltung und Wissen – und einem Charme, der seine Form findet. Wer Formwillen zum Luxus erklärt, verkennt die Realitäten. Das im eigentlichen Wortsinne ‚Ungebildete’ der Mittelschicht ist eine unverzeihliche Schlamperei.« Kaufbefehl!

Was ist dekadent? Was bedeutet Dekadenz? Geht man durch die Straßen Berlins und stellt sich diese Fragen, macht man interessante Erfahrungen. Eigentlich ist hier alles dekadent, ist man gewillt herauszuschreien. Die schlechte Kleidung im öffentlichen Raum, die architektonischen Sünden – selbst in den feinsten Zehlendorfer Villenvierteln – die Aufzählung kann das meiste umfassen, dessen man wahrnimmt. Eine Steigerung der deutschen gegenwärtigen Dekadenz liegt noch in einer Art Common sense. Alle wollen scheinbar gleich sein. Die meisten Deutschen haben panische Angst, auch nur im Ansatz irgendwie ein wenig anders zu wirken. Man sieht das so schön an den Autos. Es gibt Modefarben, und in denen werden die Autos geordert. Es war eine Zeitlang Schwarz-Metallic, gefolgt von Silber-Metallic. Jetzt kommt vielleicht Weiß. Doch das verlangt Mut, und den haben die wenigsten. Also doch lieber wieder Schwarz. Ist man wirtschaftlich einigermaßen erfolgreich, ist’s die Mercedes-S-Klasse. Denn dabei kann man nichts verkehrt machen. Hat man Glück gehabt und geerbt oder ein Deal an der Börse hat geklappt, stellt man das zur Schau. Aber nur ein bischen. Will sagen: Jeder soll den Wohlstand sehen. Aber man tut so, als wolle man diesen gerade nicht präsentieren. Dafür gibt es den Porsche Cayenne. Das interessante nun ist, dass sich letztlich alle wiederfinden, wiederfinden wollen. Das macht man deutlich durch kleine Symbole, wie den Sylt-Aufkleber am Heck. Hat man nur wenig Geld, ist das Schwarz-Metallic-Auto halt ein Lupo. Merkt doch keiner. Warum eigentlich kein Mallorca-Aufkleber?

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Der Herausgeber des MERKUR-Sonderheftes »Dekadenz – kein Wille zur Macht«, Karl Heinz Bohrer, bringt ein wunderbares Beispiel für Dekadenz in einem unserer europäischen Nachbarstaaten. Das Verhalten der britischen Marine und ihrer Angehörigen während und nach der Gefangennahme durch die iranische Marine in national unbestimmten Gewässern. Nachdem die Royal Navy-Mitglieder keinen Widerstand gegen ihre Festsetzung geleistet hatten, kooperierten sie auch noch mit dem iranischen Militär, für das diese Aktion ein gelungener Propaganda-Coup wurde. Doch damit noch längst nicht genug. Die Soldaten ließen sich anschließend in den Massenmedien tränenreich aus. Erst als es zu spät war, unterband die Militärführung das unwürdige und jegliche Geheimhaltung hohnsprechende Schauspiel.

Wer den Begriff URBANITÄT seelisch mit Leben erfüllt, der hat in Deutschland seine liebe gute Not. Nicht zufällig lebt Bohrer in Paris. Der emeritierte Literaturprofessor gehört zu den intellektuellen Spitzenköpfen der deutschen Publizistik. Ein exzellenter Kenner Ernst Jüngers und Charles Baudelaires, kreist sein eigenes Oevre um die Essenz des Schönen, um Ästhetik und Stil. Sein Beitrag in dieser furiosen MERKUR-Nummer hat nur einen Fehler, wenn man das so nennen darf: Er ist zu kurz, - gemessen an der Lesefreude, die das intellektuelle Fechten Zeile für Zeile macht. Bohrer appelliert, »die belasteten nietzeanischen Begriffe Willen und Macht mit Luhmann systemtheoretisch abzukühlen, denn wer auf Macht verzichtet, verzichtet auf Politik. Das aber wäre eine Form der Dekadenz, die weit über den Verlust von Größenphantasien hinausginge.«

Alle Beiträge dieser wiederum meilensteinischen Doppelnummer können hier nicht erwähnt werden. Besonders hervorgehoben sei der Aufsatz vom »Dandy der Medientheorie« (»Der Spiegel«) Norbert Bolz über Religion in einer dekadenten Gesellschaft. In der westlichen Welt habe sich eine »Ökumene der Ängstlichen« formiert, die Schützenhilfe von engagierten Wissenschaftlern bekomme: »Das läuft dann so: Erfindung einer Krise – Forschung – Finanzierung der Forschung – politische Organisation – ‚scientific bias’ (zu deutsch: man findet immer, was man erwartet.)«

Uwe Simson, 1936 geborener ehemaliger Referent im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, stößt mit seinem Aufsatz über Oswald Spengler ins Bohrersche Horn, wenn er diesen Historiker und politischen Philosophen, den der heutige Kulturbetrieb für desavouiert hält, zitiert: »Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen«. Das musste Joschka Fischer auch lernen. Sein Beitrag ist ein Plädoyer für eine Renaissance dieses deutschen Denkers, dessen Nachlass der Ordnung und systematischen Veröffentlichung harrt. Auch das ist Dekadenz, lieber C.H. Beck-Verlag!

Last but not least Ulf Poschardts großartige Eloge auf den Stil. Einzelne Sätze würde man am liebsten laut vorlesen. Zelebrieren. Ob im bestimmten Caféhaus, wo es nur ums Sehen-und-Gesehenwerden geht, oder auf einem beliebigen öffentlichen Platz. »Kurt Beck, der SPD-Vorsitzende, trägt Flechtslipper.« Dieser Satz ist nicht nur deshalb schön, weil wir noch einmal Nachhilfe bekommen. Äh, wer war nochmal dieser Kurt Beck? Dieser Satz bringt es auf den Punkt: Die fortschreitende Proletarisierung aller Lebensbereiche, den Niedergang der Institutionen.

Zum Lautlesen: »Das Parlament ist eine Versammlung von Abscheulichkeiten. Es lohnt nicht, darüber zu jammern. Die Stillosigkeit der gebildeten Mittelschicht, ob sie nun SPD wählt, grün oder Union, ist Kainsmal mangelnden gesellschaftlichen Ehrgeizes sowie einer Verachtung der Öffentlichkeit. Es ist eine Wurschtigkeit, die als Neobiedermeier die Abkehr der Mitverantwortung für die Zivilisiertheit des öffentlichen Raumes bedeutet. Stil ist keine Geldfrage, es ist eine Frage von Haltung und Wissen – und einem Charme, der seine Form findet. Wer Formwillen zum Luxus erklärt, verkennt die Realitäten. Das im eigentlichen Wortsinne ‚Ungebildete’ der Mittelschicht ist eine unverzeihliche Schlamperei.«

Kaufbefehl!

geschrieben am 09.05.2008 | 788 Wörter | 4957 Zeichen

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