ISBN | ||
Autor | Harald Kretzschmar | |
Verlag | Faber & Faber | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 287 | |
Erscheinungsjahr | 2008 | |
Extras | - |
DIE MAGIE EINES ORTES bleibt letztendlich unerklärlich. Man kann Ursachen suchen, warum es bestimmte Menschen hierher gezogen haben mag. Historiker sind bemüht, Gründe in geschichtlichen Konstellationen zu finden. Dennoch wird das, was das Außergewöhnliche eines Ortes ausmacht, sein Air, oft eher im Unaussprechlichen liegen – im Magischen.
Ein solcher magischer Ort ist Kleinmachnow südwestlich von Berlin. Seit hundert Jahren findet sich hier in ungeheurer Dichte eine ganz bestimmte Klientel von Künstlern ein. Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Bildhauer, Maler, Karikaturisten und Schriftsteller, Journalisten und Photographen zogen und ziehen nach wie vor hierher. Ihnen allen ist vielleicht am ehesten gemein, dass sie ihre Wohnortentscheidung mit dem Wunsch einer gewissen Ruhe, Ungestörtheit, manchmal gar Einsiedelei verbinden.
Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schrieb sich das Dorf noch Klein-Machnow. Es bezog seinen Namen durch die Lage südlich des Machnower Sees. Damals war es bekannt aufgrund seiner längst geschleiften Alten Hakeburg. Die Neue Hakeburg stammt aus den Jahren zwischen 1906 und 1908. Der Bau des Teltowkanals von 1901 bis 1906 und der Schleuse Kleinmachnow war ein Wendepunkt. Die Schleuse war eine Attraktion für die Berliner Ausflügler, die an den Wochenenden die Umgebung und die Wirtshäuser bevölkerten. In dieser Zeit war das Dorf in den Blick von Berliner Wohnungsbaugesellschaften gerückt. Berlin platzte schon aus allen Nähten. Bereits in die erste Einfamilienhaus-Siedlung zogen neben Ingenieuren und Kaufleuten überdurchschnittlich viele Künstler. Ab Ende der 1920er Jahre wurde Kleinmachnow dann in westlicher Richtung erschlossen. Man erschloss zugleich eine neue Bewohnerschicht durch die revolutionäre Standard-Bauweise, die zu deutlich geringeren Preisen für das eigene Haus im Grünen führte.
Der Karikaturist Harald Kretzschmar schuf ein aufwendiges und berührendes Buch über diesen – seinen – Ort. Er zeichnete nicht nur die Porträts, sondern schrieb auch die biographischen Texte. Texte über die menschlichen Schicksale von vielen Künstlern, die hier einen Teil ihres Lebens verbrachten. Diese Schicksale sind natürlich eng verknüpft mit der Historie. Und die hat den kleinen, beschaulichen Ort am Rande des großen Molochs nie verschont. Aber er hat sie ja auch angezogen: diese anderen, diese besonders Nachdenklichen und mit ihren Zeitumständen Hadernden. Die, die es sich nicht zu leicht machen wollten. Das war unter der nationalsozialistischen Diktatur nicht anders als unter der kommunistischen. 1929 zog Adolf Grimme mit seiner Familie nach Kleinmachnow. Er engagierte sich in politischen wie kirchlichen Gruppen gegen die Nazidiktatur. Insbesondere war ihm daran gelegen, Intellektuelle wachzurütteln. Grimme, der 1930 von der sozialdemokratischen Regierung zum Kultusminister berufen worden war, verbreitete unter anderem Flugblätter der Bekennenden Kirche. Im Oktober 1942 führte die Geheime Staatspolizei bei Grimmes eine Hausdurchsuchung durch. Dabei fand sie illegale Unterlagen von Harnack, der der Roten Kapelle zugerechnet wurde. Adolf Grimme wurde zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Im April 1945 wurde er von der Britischen Armee aus dem Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel befreit. Auch seine Frau Maria hatte Glück. Sie war bereits wegen einer schweren Krankheit 1943 aus der Haft entlassen worden.
Alle mehrere Dutzend Porträtierten und Erwähnten können hier nicht genannt werden. Beschriebene Kleinmachnower Schicksale enthält das Buch von Lily und Heinrich Braun, Arnold Schönberg, Kurt Weil, Werner Bernhardy, Erwin Geschonnek, Walter Janka, Christa Wolff und vielen anderen. »So etwas wie ein Epilog« liefert dem Autoren, der selbst seit einem halben Jahrhundert in Kleinmachnow lebt, das Leben der Knef. »Mit diesem besonderen Schlusskapitel hat es seine eigene Bewandtnis«, schreibt Kretzschmar. »Schon in ihrer Jugend war die am 28.12.1925 in Ulm Geborene und in Berlin-Schöneberg Aufgewachsene dem Ort nahegekommen. Als sie Werner Tummeley, genannt Bernhardy, Vater und Sohn, als 16-jährige Zeichenschülerin dort Auf der Breite 7-9 besucht hatte, entschied sich ihre Berufswahl zur Schauspielerin.« Nach einem Leben voller extremer Höhen und Tiefen zeichnet Kretzschmar in würdevollen Worten die letzte Station, die sich Hildegard Knef für nur wenige Wochen in ihrem anonymen Refugium gesucht hatte. Erst am 1. Oktober 2001 war sie mit ihrem Mann hier eingezogen. Genau vier Monate später verstarb die Schauspielerin an ihrem Krebsleiden. »Wo alles begann, kommt nun das Ende. Aus tiefster Seele gelebt. Nun wird abgeklingelt. Das letzte Lebenszeichen war ein der Briefträgerin herausgereichtes Autogramm.«
Harald Kretzschmar vermerkt einleitend, dass er eigentlich kein Schreiber gewesen sei, erst durch dies Buch sei er zu einem geworden. Man kann anmerken: Und zu einem guten! Denn kurz sind sie alle, seine Porträts. Dennoch sind sie einnehmend, bedrückend-berührend. Er schreibt, wie er zeichnet: keine langen Umwege. Präzise Striche sind treffende Worte. Und: Der Zeichner versteht es, sich in Schicksale einzufühlen. Ohne umständliche Erklärungen wird der Leser in den Bann gezogen. Wie jeder einzelne dieser beschriebenen Individualisten, der Künstler und dabei auch Lebens-Künstler, dem Leben möglichst viel abringen wollte. Kretzschmars und damit des Buches größte Stärke ist das Unterbleiben von Wertungen. Der Autor ist gefeit vor Urteilen und mithin Ver-Urteilungen. Eher versucht er, sich einzufühlen, sich der jeweiligen Biographie, die ja immer auch tragisch ist, respektvoll anzunähern.
Hervorgehoben werden soll noch die außergewöhnlich gelungene Illustration des schönen Quartbandes. Sie ist nicht nur gelungen, weil der Autor ein begnadeter Karikaturist und Porträtzeichner ist. Die mit zurückhaltender Strichführung verfertigten Skizzen runden die Texte stimmig ab, denn sie sprechen die Sprache des Textes. Das macht das Buch zu einem Erlebnis.
geschrieben am 23.12.2008 | 837 Wörter | 5203 Zeichen
Kommentare zur Rezension (0)
Platz für Anregungen und Ergänzungen