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Formlose Ähnlichkeit


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Formlose Ähnlichkeit In Frankreich sind geistige Debatten möglich, die in Deutschland, dem Land der selbstauferlegten Denkverbote, undenkbar sind. Im Jahr 2000 fand in Paris eine Ausstellung unter dem Titel "Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d\'extermination nazis (1933-1999)" statt. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hatte dafür einen Beitrag geschrieben über vier Photographien. Die Aufnahmen waren von Mitgliedern eines Sonderkommandos in Birkenau gemacht worden, die dem Tode geweiht waren und zeigen, wie nackte Leichen verbrannt werden oder wie nackte Frauen zur Gaskammer getrieben werden. Die Photographen hatten nichts mehr zu verlieren, wie selten in einer menschlichen Existenz. Sie wollten ihrer Nachwelt das Ausmaß des Dämonischen überliefern. Didi-Huberman argumentiert, diese Aufnahmen seien wertvoll, weil sie über den bildlichen Beweis des Grauens hinaus den »Willen der Opfer zum Zeugnis« belegten. Der Kunsttheoretiker zog daraus eine »weitreichende ästhetisch-ethische Konsequenz, die ihm wütende, ja geradezu hasserfüllte Reaktionen eingetragen hat«, wie die taz schrieb. Man müsse aufgrund dieser Bilder nun nicht ein weiteres Mal hervorheben, dass »Auschwitz undarstellbar ist«. Die Heftigkeit der Angriffe in Frankreich auf Didi-Huberman konnte nicht verwundern. Sie gipfelten darin, ihm eine »pervers fetischistische Geisteshaltung« anzukreiden. Der Beitrag von Georges Didi-Huberman ist in dem Band dokumentiert Bilder trotz allem, der 2007 im Wilhelm Fink Verlag erschien. Nun legt der renommierte Münchner Philosophie-Verlag nach und bringt unter dem Titel Formlose Ähnlichkeit Didi-Hubermans großen Bataille-Essay, der in Frankreich 1995 erschien. Ausgehend von der Zeitschrift Documents, die Bataille zwischen 1929 und 1930 mit herausgab, untersucht er minutiös den Versuch Batailles, bisheriges Bild-Denken zu sprengen. Bataille fungierte bei Documents als »Generalsekretär der Publikation« und versammelte hier die von dem Surrealisten André Breton aus der Bewegung Ausgestoßenen oder von sich aus Gegangenen: Michel Leiris, Georges Limbour, André Masson und Joan Miró gehörten zum elf-köpfigen Mitarbeiterteam. Didi-Huberman legt in atemberaubend-minutiöser Weise dar, wie Bataille über den Blickwinkel der Surrealisten weit hinausgeht, indem er deren Anspruch einer neuen Ästhetik im Sinne einer dadaistischen »Formlosigkeit« geradezu nietzscheanisch-radikal konterkariert: Bataille zeigt materielle , exzessive Ähnlichkeiten, fernab jedweder oberflächlichen oder geübt-konditionierten Sichtweise: »Wie ein verlängerter Riß, wie ein Riß, der mittels Berührung von Subjekt zu Subjekt und von Erfahrung zu Erfahrung geht«, nennt es Didi-Huberman. Didi-Huberman geht in seiner bahnbrechenden Studie von der These von »Ähnlichkeit und Konformität« aus, die Bataille hätte zerreißen wollen. Er nimmt Batailles Begrifflichkeit im wahrsten Sinne ernst, indem er – genau wie Bataille selbst – zuerst die Begriffe durchleuchtet, um dann von ihnen ausgehend das weitere Wirken-Wollen zu untersuchen. Denn, so Didi-Huberman, »Batailles Projekt der Überschreitung in Bezug auf die idealistische Philosophie wollte sich auf die Begriffe nicht ‚stützen‘, sondern von ihnen ausgehen (…) und erst nach Durchquerung einer Art Hölle aus glühenden unkonventionellen und verwirrenden Wörtern und Anblicken zu ihnen zurückkehren«. Weit über Bretons Surrealisten hinaus, die mit ihren Collagen ideologischen Anspruch und persönliche Eitelkeit verbanden, ging es Bataille um vielmehr: Was für die Kunst in ihrer gesamten Geschichte galt, galt ja auch für die der Surrealisten: Sie wurde gesammelt, gefördert, betrachtet und besessen. Bataille zerrte die Kunst auf eine andere, eine die Seele berührende Ebene. Die Kunst durfte nicht mehr tot sein. Zu ihr musste der Betrachter ein Verhältnis haben, - eine Beziehung sich eingestehen. »Er forderte sowohl Sein als auch erkennen, und darunter verstand er nichts anderes als eine ‚Erfahrung‘, eine Prüfung, das Ins-Spiel-Bringen und Aufs-Spiel-Setzen einer Beziehung und einer Zeitlichkeit – das Symptomale als solches -, die er als ‚Augenblick der gewaltsamen Berührung‘ bezeichnete«, schreibt Didi-Huberman. Didi-Hubermans Gesamt-Untersuchung ist derart umfang- und detailreich, dass eine gewöhnliche Rezension nur anreißen kann – ohne der Arbeit auch nur annähernd gerecht zu werden. Didi-Huberman selbst spricht in seiner Vorbemerkung davon, der Essay werde »im Geiste eines Handbuches der antichristlichen Ikonographie oder sogar eines Jenseits des Ikonographieprinzips gelesen werden können«. Dies bestätigen wir nicht nur im formal-ästhetischen, sondern weit darüber hinaus auch im geistig-reflexiven Verständnis.

In Frankreich sind geistige Debatten möglich, die in Deutschland, dem Land der selbstauferlegten Denkverbote, undenkbar sind.

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Im Jahr 2000 fand in Paris eine Ausstellung unter dem Titel "Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d\'extermination nazis (1933-1999)" statt. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman hatte dafür einen Beitrag geschrieben über vier Photographien. Die Aufnahmen waren von Mitgliedern eines Sonderkommandos in Birkenau gemacht worden, die dem Tode geweiht waren und zeigen, wie nackte Leichen verbrannt werden oder wie nackte Frauen zur Gaskammer getrieben werden.

Die Photographen hatten nichts mehr zu verlieren, wie selten in einer menschlichen Existenz. Sie wollten ihrer Nachwelt das Ausmaß des Dämonischen überliefern. Didi-Huberman argumentiert, diese Aufnahmen seien wertvoll, weil sie über den bildlichen Beweis des Grauens hinaus den »Willen der Opfer zum Zeugnis« belegten. Der Kunsttheoretiker zog daraus eine »weitreichende ästhetisch-ethische Konsequenz, die ihm wütende, ja geradezu hasserfüllte Reaktionen eingetragen hat«, wie die taz schrieb. Man müsse aufgrund dieser Bilder nun nicht ein weiteres Mal hervorheben, dass »Auschwitz undarstellbar ist«.

Die Heftigkeit der Angriffe in Frankreich auf Didi-Huberman konnte nicht verwundern. Sie gipfelten darin, ihm eine »pervers fetischistische Geisteshaltung« anzukreiden. Der Beitrag von Georges Didi-Huberman ist in dem Band dokumentiert Bilder trotz allem, der 2007 im Wilhelm Fink Verlag erschien.

Nun legt der renommierte Münchner Philosophie-Verlag nach und bringt unter dem Titel Formlose Ähnlichkeit Didi-Hubermans großen Bataille-Essay, der in Frankreich 1995 erschien. Ausgehend von der Zeitschrift Documents, die Bataille zwischen 1929 und 1930 mit herausgab, untersucht er minutiös den Versuch Batailles, bisheriges Bild-Denken zu sprengen.

Bataille fungierte bei Documents als »Generalsekretär der Publikation« und versammelte hier die von dem Surrealisten André Breton aus der Bewegung Ausgestoßenen oder von sich aus Gegangenen: Michel Leiris, Georges Limbour, André Masson und Joan Miró gehörten zum elf-köpfigen Mitarbeiterteam. Didi-Huberman legt in atemberaubend-minutiöser Weise dar, wie Bataille über den Blickwinkel der Surrealisten weit hinausgeht, indem er deren Anspruch einer neuen Ästhetik im Sinne einer dadaistischen »Formlosigkeit« geradezu nietzscheanisch-radikal konterkariert: Bataille zeigt materielle , exzessive Ähnlichkeiten, fernab jedweder oberflächlichen oder geübt-konditionierten Sichtweise: »Wie ein verlängerter Riß, wie ein Riß, der mittels Berührung von Subjekt zu Subjekt und von Erfahrung zu Erfahrung geht«, nennt es Didi-Huberman.

Didi-Huberman geht in seiner bahnbrechenden Studie von der These von »Ähnlichkeit und Konformität« aus, die Bataille hätte zerreißen wollen. Er nimmt Batailles Begrifflichkeit im wahrsten Sinne ernst, indem er – genau wie Bataille selbst – zuerst die Begriffe durchleuchtet, um dann von ihnen ausgehend das weitere Wirken-Wollen zu untersuchen. Denn, so Didi-Huberman, »Batailles Projekt der Überschreitung in Bezug auf die idealistische Philosophie wollte sich auf die Begriffe nicht ‚stützen‘, sondern von ihnen ausgehen (…) und erst nach Durchquerung einer Art Hölle aus glühenden unkonventionellen und verwirrenden Wörtern und Anblicken zu ihnen zurückkehren«.

Weit über Bretons Surrealisten hinaus, die mit ihren Collagen ideologischen Anspruch und persönliche Eitelkeit verbanden, ging es Bataille um vielmehr: Was für die Kunst in ihrer gesamten Geschichte galt, galt ja auch für die der Surrealisten: Sie wurde gesammelt, gefördert, betrachtet und besessen.

Bataille zerrte die Kunst auf eine andere, eine die Seele berührende Ebene. Die Kunst durfte nicht mehr tot sein. Zu ihr musste der Betrachter ein Verhältnis haben, - eine Beziehung sich eingestehen. »Er forderte sowohl Sein als auch erkennen, und darunter verstand er nichts anderes als eine ‚Erfahrung‘, eine Prüfung, das Ins-Spiel-Bringen und Aufs-Spiel-Setzen einer Beziehung und einer Zeitlichkeit – das Symptomale als solches -, die er als ‚Augenblick der gewaltsamen Berührung‘ bezeichnete«, schreibt Didi-Huberman.

Didi-Hubermans Gesamt-Untersuchung ist derart umfang- und detailreich, dass eine gewöhnliche Rezension nur anreißen kann – ohne der Arbeit auch nur annähernd gerecht zu werden. Didi-Huberman selbst spricht in seiner Vorbemerkung davon, der Essay werde »im Geiste eines Handbuches der antichristlichen Ikonographie oder sogar eines Jenseits des Ikonographieprinzips gelesen werden können«.

Dies bestätigen wir nicht nur im formal-ästhetischen, sondern weit darüber hinaus auch im geistig-reflexiven Verständnis.

geschrieben am 02.08.2010 | 624 Wörter | 4069 Zeichen

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