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Die amerikanische Krankheit


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Rezension von

Anna Kneisel

Die amerikanische Krankheit AmoklĂ€ufe sind seit einigen Jahren fester Bestandteil der Berichterstattung deutscher Medien, es scheint eine HĂ€ufung vorzuliegen. Oder hat sich nur ihre QualitĂ€t verĂ€ndert? Jedes Mal, wenn wieder jemand aus uns unerfindlichen GrĂŒnden ein Blutbad in einer Schule, einem Kindergarten oder Krankenhaus angerichtet hat, steht die Frage nach dem Warum im Raum. Besonderes Augenmerk wird dabei auf Schulmassaker gelegt, die Liste der angeblichen Ursachen ist lang, es wurden Egoshooter, Metalmusik und Ă€hnliche Faktoren ins Feld gefĂŒhrt. In Talkshows ringen sogenannte Experten um ErklĂ€rungen, den TĂ€tern wird post mortem ein ungeheuer großes Interesse zuteil – sie erreichen also genau das, was sie bezweckten – aber niemand hat bisher eine befriedigende ErklĂ€rung, die es ermöglichen wĂŒrde, solche Taten im Vorfeld abzusehen und zu verhindern, ohne ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht zu stellen. Der Psychologe und Psychotherapeut Georg Milzner sucht in seinem Buch „Die amerikanische Krankheit“ GrĂŒnde fĂŒr AmoklĂ€ufe; dabei steht der AmoklĂ€ufer als Typ und nicht als Einzelperson zur Debatte und es werden Ă€ußere UmstĂ€nde in Betracht gezogen. Er beschreitet hierbei einen Mittelweg zwischen psychologischer Abhandlung und populĂ€rwissenschaftlicher Veröffentlichung, lĂ€sst also den anderswo ĂŒblichen, gewaltigen Fußnotenapparat beiseite. Im Mittelpunkt soll aber nicht, wie gewöhnlich, der TĂ€ter stehen, sondern die Gesellschaft, die fĂŒr solche Gewaltakte die Rahmenbedingungen erst bereitstellt. Warum also der Titel „Die amerikanische Krankheit“? AmoklĂ€ufe gab es in Deutschland und anderen LĂ€ndern schon lange, aber die Tatsache, dass wir uns meist nicht an die Namen der TĂ€ter, sondern nur an die Orte erinnern, sagt sehr viel aus: Wir nehmen die heutigen AmoklĂ€ufe sozusagen wie eine Katastrophe wahr, die unerwartet ĂŒber eine Kleinstadt hereinbricht, denn wir können uns nicht erklĂ€ren, was junge Menschen, meist junge MĂ€nner, dazu bewegt. Diese „neue“ Art des Amoklaufs, der von den TĂ€tern inszeniert wird und meist mit deren Selbstmord endet, sei erst seit dem Massaker in Littleton zu beobachten, das daher eine ZĂ€sur darstelle, so Milzner. Verschiedene ErklĂ€rungsansĂ€tze wie psychische Erkrankungen, beispielsweise Psychopathie, ein Trauma, eine Borderline-Störung oder Depressionen werden nacheinander vorgestellt und mit dem TĂ€tertypus abgeglichen. Keine dieser ErklĂ€rungen will so recht dazu passen und so wendet sich der Autor anderen Aspekten zu, nĂ€mlich der Rolle von Psychopharmaka, Mobbing, Herostratentum, Sadismus etc. Zur genaueren Ausdifferenzierung folgt ein Kapitel ĂŒber verschiedene Formen der Gewalt und welche Eigenschaften dieser Formen sich im TĂ€tertypus wiederfinden. Erst jetzt tastet sich Milzner an die innere Welt eines modernen AmoklĂ€ufers heran, beantwortet die Frage nach dem Sinn einer Typologie, stellt SelbstmordattentĂ€ter und AmoklĂ€ufer einander gegenĂŒber (Selbstmord nicht als religiöse Botschaft, sondern um sich möglichen Konsequenzen zu entziehen) und hebt das Planhafte, Tranceartige letzterer besonders heraus. Die Rolle der Gesellschaft ist Georg Milzner zufolge zentral in der Entwicklung des modernen AmoklĂ€ufers, insbesondere macht er das ursprĂŒnglich in den USA verwendete, heroisierte Bild des einsamen RĂ€chers, den man aus diversen Western-Filmen kennt, als Gefahrenquelle aus. Wenn eine Gesellschaft von jemandem angefĂŒhrt werde, der wie George W: Bush sich als ein solcher einsamer RĂ€cher bei der BekĂ€mpfung seiner „Axis of Evil“ stilisierte, sei dieses Bild folgerichtig auch in anderen Gesellschaftsebenen anzutreffen und erfahre somit auch eine Akzeptanz, die sich gerade die potentiellen AmoklĂ€ufer auch wĂŒnschen. Der Autor umreißt das Bild des AmokschĂŒtzen als Mensch, der gern dazugehören möchte, es aber aufgrund verschiedener Faktoren wie auch einer inneren Disposition nicht schafft und sich dieses RĂ€cherbild zu eigen macht. Eine der maßgeblichen Eigenschaften des TĂ€ters ist fĂŒr Milzner Feigheit, denn warum sonst sollte man sich fĂŒr seine Tat einen Ort aussuchen, an dem nicht viel Gegenwehr zu erwarten ist? Milzner arbeitet mit Bildern und Gleichnissen, um dem nĂ€her zu kommen, was so schwer zu erklĂ€ren und zu definieren ist, teilt ein in OberflĂ€chenstrukturen und Unterströmungen der Gesellschaft, zieht Parallelen zu Politik und Wirtschaft und bettet so das Ungeheuer, als das der TĂ€ter im Allgemeinen betrachtet wird, in den gesellschaftlichen Rahmen ein, macht ihn zum Bestandteil eben dieses Umfeldes. Es ist ein beunruhigendes, dennoch aber nicht gerade ĂŒberraschendes Ergebnis, zu dem der Autor gelangt. Aber er zieht nicht nur Bilanz, sondern bietet auch LösungsansĂ€tze, wie man dem PhĂ€nomen des modernen AmoklĂ€ufers Einhalt gebieten könnte. Inwieweit er Recht behĂ€lt, ist nicht zu sagen, dafĂŒr mĂŒsste man es zunĂ€chst einmal mit seinen LösungsvorschlĂ€gen probieren. Auf jeden Fall sind seine differenzierten, facettenreichen AusfĂŒhrungen bedenkenswert und daher grundsĂ€tzlich zu unterstĂŒtzen.

AmoklÀufe sind seit einigen Jahren fester Bestandteil der Berichterstattung deutscher Medien, es scheint eine HÀufung vorzuliegen. Oder hat sich nur ihre QualitÀt verÀndert?

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Der Psychologe und Psychotherapeut Georg Milzner sucht in seinem Buch „Die amerikanische Krankheit“ GrĂŒnde fĂŒr AmoklĂ€ufe; dabei steht der AmoklĂ€ufer als Typ und nicht als Einzelperson zur Debatte und es werden Ă€ußere UmstĂ€nde in Betracht gezogen. Er beschreitet hierbei einen Mittelweg zwischen psychologischer Abhandlung und populĂ€rwissenschaftlicher Veröffentlichung, lĂ€sst also den anderswo ĂŒblichen, gewaltigen Fußnotenapparat beiseite. Im Mittelpunkt soll aber nicht, wie gewöhnlich, der TĂ€ter stehen, sondern die Gesellschaft, die fĂŒr solche Gewaltakte die Rahmenbedingungen erst bereitstellt.

Warum also der Titel „Die amerikanische Krankheit“? AmoklĂ€ufe gab es in Deutschland und anderen LĂ€ndern schon lange, aber die Tatsache, dass wir uns meist nicht an die Namen der TĂ€ter, sondern nur an die Orte erinnern, sagt sehr viel aus: Wir nehmen die heutigen AmoklĂ€ufe sozusagen wie eine Katastrophe wahr, die unerwartet ĂŒber eine Kleinstadt hereinbricht, denn wir können uns nicht erklĂ€ren, was junge Menschen, meist junge MĂ€nner, dazu bewegt. Diese „neue“ Art des Amoklaufs, der von den TĂ€tern inszeniert wird und meist mit deren Selbstmord endet, sei erst seit dem Massaker in Littleton zu beobachten, das daher eine ZĂ€sur darstelle, so Milzner.

Verschiedene ErklÀrungsansÀtze wie psychische Erkrankungen, beispielsweise Psychopathie, ein Trauma, eine Borderline-Störung oder Depressionen werden nacheinander vorgestellt und mit dem TÀtertypus abgeglichen. Keine dieser ErklÀrungen will so recht dazu passen und so wendet sich der Autor anderen Aspekten zu, nÀmlich der Rolle von Psychopharmaka, Mobbing, Herostratentum, Sadismus etc.

Zur genaueren Ausdifferenzierung folgt ein Kapitel ĂŒber verschiedene Formen der Gewalt und welche Eigenschaften dieser Formen sich im TĂ€tertypus wiederfinden.

Erst jetzt tastet sich Milzner an die innere Welt eines modernen AmoklĂ€ufers heran, beantwortet die Frage nach dem Sinn einer Typologie, stellt SelbstmordattentĂ€ter und AmoklĂ€ufer einander gegenĂŒber (Selbstmord nicht als religiöse Botschaft, sondern um sich möglichen Konsequenzen zu entziehen) und hebt das Planhafte, Tranceartige letzterer besonders heraus.

Die Rolle der Gesellschaft ist Georg Milzner zufolge zentral in der Entwicklung des modernen AmoklĂ€ufers, insbesondere macht er das ursprĂŒnglich in den USA verwendete, heroisierte Bild des einsamen RĂ€chers, den man aus diversen Western-Filmen kennt, als Gefahrenquelle aus. Wenn eine Gesellschaft von jemandem angefĂŒhrt werde, der wie George W: Bush sich als ein solcher einsamer RĂ€cher bei der BekĂ€mpfung seiner „Axis of Evil“ stilisierte, sei dieses Bild folgerichtig auch in anderen Gesellschaftsebenen anzutreffen und erfahre somit auch eine Akzeptanz, die sich gerade die potentiellen AmoklĂ€ufer auch wĂŒnschen. Der Autor umreißt das Bild des AmokschĂŒtzen als Mensch, der gern dazugehören möchte, es aber aufgrund verschiedener Faktoren wie auch einer inneren Disposition nicht schafft und sich dieses RĂ€cherbild zu eigen macht. Eine der maßgeblichen Eigenschaften des TĂ€ters ist fĂŒr Milzner Feigheit, denn warum sonst sollte man sich fĂŒr seine Tat einen Ort aussuchen, an dem nicht viel Gegenwehr zu erwarten ist?

Milzner arbeitet mit Bildern und Gleichnissen, um dem nÀher zu kommen, was so schwer zu erklÀren und zu definieren ist, teilt ein in OberflÀchenstrukturen und Unterströmungen der Gesellschaft, zieht Parallelen zu Politik und Wirtschaft und bettet so das Ungeheuer, als das der TÀter im Allgemeinen betrachtet wird, in den gesellschaftlichen Rahmen ein, macht ihn zum Bestandteil eben dieses Umfeldes.

Es ist ein beunruhigendes, dennoch aber nicht gerade ĂŒberraschendes Ergebnis, zu dem der Autor gelangt. Aber er zieht nicht nur Bilanz, sondern bietet auch LösungsansĂ€tze, wie man dem PhĂ€nomen des modernen AmoklĂ€ufers Einhalt gebieten könnte.

Inwieweit er Recht behĂ€lt, ist nicht zu sagen, dafĂŒr mĂŒsste man es zunĂ€chst einmal mit seinen LösungsvorschlĂ€gen probieren. Auf jeden Fall sind seine differenzierten, facettenreichen AusfĂŒhrungen bedenkenswert und daher grundsĂ€tzlich zu unterstĂŒtzen.

geschrieben am 23.11.2010 | 696 Wörter | 4395 Zeichen

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