ISBN | 3826031504 | |
Autoren | Axel Holm , Thomas Arzt | |
Verlag | Königshausen & Neumann | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 140 | |
Erscheinungsjahr | 2006 | |
Extras | broschierte Ausgabe |
Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert sein der allgemeinen Erschütterung einer Reihe von Überzeugungen: der Überzeugung von der ausschließlichen Vorteilhaftigkeit des Fortschritts, der Überzeugung, die menschliche Seele sei Produkt der Evolution oder der, die Welt sei vollständig wissenschaftlich erkennbar und erklärbar. Im 20. Jahrhundert wurde das naturwissenschaftliche Weltbild zutiefst erschüttert und die Basis gelegt, für das, was uns nun bevorsteht. Die Physiker Albert Einstein und Werner Heisenberg kamen mit ihren Grundlagenforschungen an die Grenzen und damit zur Erkenntnis, dass das Ergebnis jedweden Versuchs vom Forscher beeinflusst wird. Mit anderen Worten: Durch den Forscher und den Versuchsaufbau ist der Rahmen des möglichen Ergebnisses gesteckt. Der Wissenschaftler selbst hat keine Ahnung vom Ausmaß seiner Beeinflussung des Versuchs. Die Wahrheit ist kein geschlossenes sondern ein offenes System. Werner Heisenberg schrieb in »Das Naturbild des heutigen Menschen und die Wandlungen des Denkens«: »Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften gesprochen werden kann, so handelt es sich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern ein Bild unserer Beziehungen zur Natur.« Die Welt als Wille und Vorstellung also.
Die vom Würzburger Verlag Königshausen & Neumann neu begründete Studienreihe zur Analytischen Psychologie widmet sich diesen Fragen im Lichte der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs. Die Herausgeber und Autoren zählen sich zu dessen Anhängern, weil bei ihm die Wirklichkeit der Seele am Anfang aller Überlegungen stehe. Der erste Band der Reihe mit dem Titel Wegmarken der Individuation stellt diesen Begriff von Jung in seinen Mittelpunkt. Mit Individuation meinte Jung, den Weg des Individuums zu sich selbst. Es bedeutet, zu dem zu werden, der man wirklich ist unter Abtrennung von äußeren Einflüssen, die einen scheinbar ausmachen, in Wirklichkeit aber nicht zu einem gehören. Die Individuation beschreibt mithin einen lebenslangen Differenzierungsprozess.
K. Alex Müller, der vor exakt zwanzig Jahren den Nobelpreis für Physik erhalten hat, schildert in seinem Beitrag in bewundernswerter Offenheit eigene Träume. Der 1927 geborene Physiker interpretiert sie mit Hilfe von Jungs Tiefenpsychologie. An mancher Stelle geht er auch auf Traumschilderungen Ernst Jüngers ein, zu denen er gewisse Parallelen sieht. Er schließt an Diskussionen an, die der Physiker Wolfgang Pauli führte im Bestreben, die Grenzen der eigenen Erkenntnis zu erweitern.
Der studierte Philosoph und Literaturhistoriker Friedrich Gaede befasst sich in seinem Aufsatz mit der »Entscheidungskraft des Unbewußten«. Gaede versucht sich der Beantwortung der Frage anzunähern, inwieweit die menschlichen Entscheidungen rein rational gefällt werden oder anders ausgedrückt, ob nicht letztlich doch das Unterbewusstsein Herr unseres Verhaltens ist. Gaede findet eine Reihe von interessanten und instruktiven Beispielen, darunter Bismarck. Er zitiert den Reichskanzler mit seiner Schilderung, wer denn die Entscheidungen treffe: »Ich bin oft in die Lage gekommen, schnelle und starke Entschlüsse fassen zu müssen, die hat aber jedesmal der andere Kerl in mir gefaßt. Gleich nachher bin ich meist durch Überlegung ängstlich geworden; ich habe oft gern zurück wollen; aber es war geschehen! Und wenn ich heute zurückdenke, muß ich wohl einräumen, daß es die besten Entschlüsse in meinem Leben gewesen sind, welche der andere Kerl in mir gefaßt hat.«
Last but not least hervorzuheben ist der Beitrag von Walter Schwery (1927) über das Tibetische Totenbuch. Er bezeichnet dieses erstaunliche Werk, das über viele Jahrhunderte immer weitergeschrieben wurde, als das vielleicht »geschlossenste und konsequenteste und zutiefst esoterische aller einschlägigen Werke zur Seelenführung der ‚alten Welt’«. Das Buch fasst insgesamt sechs Aufsätze zusammen, die alle kreisen um anstehende Fragen in einer Welt voller Umbrüche oder, wie es im Vorwort heißt, fundamentaler Transformationen. Sie werden beleuchtet mit Jungs Sicht der Individuation.
Werner Heisenberg schildert in seinem Buch »Der Teil und das Ganze – Gespräche im Umkreis der Atomphysik« ein Gespräch mit Wolfgang Pauli, der in den »Wegmarken der Individuation« eine zentrale Rolle einnimmt:
»Als wir eine Weile am Ende der Mole gestanden hatten, fragte Wolfgang mich ziemlich unvermittelt:
‚Glaubst Du eigentlich an einen persönlichen Gott? Ich weiß natürlich, daß es schwer ist, einer solchen Frage einen klaren Sinn zu geben, aber die Richtung der Frage ist doch wohl erkennbar.’
‚Darf ich die Frage auch anders formulieren?’, erwiderte ich. ‚Dann würde sie lauten: Kannst du, oder kann man der zentralen Ordnung der Dinge oder des Geschehens, an der ja nicht zu zweifeln ist, so unmittelbar gegenübertreten, mit ihr so unmittelbar in Verbindung treten, wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist? Ich verwende hier ausdrücklich dies so schwer deutbare Wort ‚Seele’, um nicht mißverstanden zu werden. Wenn du so fragst, würde ich mit Ja antworten. Und ich könnte, weil es ja auf meine persönlichen Erlebnisse hier nicht ankommt, an den berühmten Text erinnern, den Pascal immer bei sich trug und den er mit dem Wort ‚Feuer’ begonnen hatte. Aber dieser Text würde nicht für mich gelten.’
‚Du meinst also, daß dir die zentrale Ordnung mit der gleichen Intensität gegenwärtig sein kann wie die Seele eines anderen Menschen?’
‚Vielleicht.’«
geschrieben am 26.06.2007 | 787 Wörter | 4756 Zeichen
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