ISBN | 3518425366 | |
Autor | David Vann | |
Verlag | Suhrkamp | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 282 | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Extras | - |
Schon der letzte Roman von David Vann, den ich gelesen hatte und besprechen durfte, „Die Unermesslichkeit“, hat mich stark beeindruckt. Den neuen Roman habe ich deshalb mit Spannung erwartet und er hat mich gelinde gesagt an etlichen Stellen regelrecht umgehauen oder vielmehr kalt erwischt. Denn Vann führt den Leser diesmal so intensiv in die psychischen Verstrickungen der handelnden Figuren hinein, dass sich die Qualen, die sie im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen mit sich und anderen erleiden, so real werden, dass man stellenweise das Buch weglegen möchte – es aber doch nicht kann, weil man in diesem Erzählsog gefangen ist. Sehr, sehr gut gemacht.
Es geht um Sheri und Caitlin, Mutter und Tochter, letztere 12 Jahre alt und in einer High School in Seattle. Die Mutter ist als Hafenarbeiterin tätig und hat so lange Arbeitstage, dass Caitlin schon vor der offiziellen Öffnungszeit in der Schule abgegeben werden muss und die Nachmittage im örtlichen Aquarium verbringt anstelle in der Nachmittagsbetreuung. Dies ist ihr einziger Luxus, den sie sich gönnen kann, denn ansonsten sind die Mittel knapp. Man erfährt noch, dass Caitlin in der Schule eine Freundin hat, mit der sie sich nicht nur blendend versteht, sondern mit der sie auch erste Liebkosungen austauscht. Im Aquarium unterhält sie sich des Öfteren mit einem älteren Herrn, der genauso fischvernarrt zu sein scheint wie Caitlin selbst. So weit, so unspannend, aber dann wird es turbulent. Denn der ältere Herr entpuppt sich als Caitlins Großvater, der sich nach Jahren der Abwesenheit endlich dazu entschlossen hat, den Kontakt zu seiner Tochter Sheri und zu Caitlin wieder aufzunehmen, nachdem er Sheri im Teenageralter mit deren krebskranker Mutter im Stich gelassen hatte. Es kommt erst zu einem großen Eklat im Aquarium, denn der Großvater wird für einen Lüstling gehalten, aber noch schlimmer wird es, als Sheri ihn erkennt und sich die seit Jahren angestaute Gefühle aus Trauer und Hass Bahn brechen können. Als Caitlin und ihr Opa sich dann dennoch weiterhin heimlich treffen, wird die Geschichte unerträglich belastend. Denn Sheri zwingt nun Caitlin dazu, körperlich nachzuempfinden, was sie damals mit ihrer sterbenskranken Mutter durchmachen musste. Doch Caitlin ist stark und lässt sich nicht brechen, sie ist in der Lage, die schlimmen Erfahrungen der Mutter zu verstehen und zugleich ihren Großvater zu wollen. Auch unter dem sanften Einfluss von Steve, Sheris neuem Freund, kommt es zu einer Art Annäherung zwischen Sheri und ihrem Vater, die aber zuerst einmal auf die Forderung nach totaler Kapitulation des alten Mannes hinausläuft: sie will sein Haus, sein Geld und über ihn emotional bestimmen. Auch dieses Machtspiel ist packend und erschreckend zugleich. Doch der Knaller kommt noch am Ende, als eine Szene im Haus des Großvaters eskaliert und die sich bis dahin gebildeten Pole umkehren und eine völlig neue Situation schaffen – für alle und das nicht zwingend zum Besten. Aber dies soll im Detail nicht vorweggenommen werden. Es ist aber der dritte Knaller im Roman, der den Leser psychisch enorm mitnimmt.
Wie schon in Vanns früherem Roman ist es auch diesmal - neben der tollen Geschichte - die Sprache, die mich ganz für das Buch eingenommen hat. Da werden Sätze hingeworfen, die in ihrer Tragweite und Tiefe einfach grandios sind, etwa: „Ich habe schon immer eine Zukunft gebraucht. Ohne kann ich nicht leben.“ (S. 71), oder: „Ein schrecklicher Augenblick in der Kindheit verharrt in einer Art Ewigkeit, unerträglich.“ (S. 108), oder: „Ein Leben ist dem anderen stets fremd.“ (S. 233) sowie „Allerdings auch das Ende der unkomplizierten, bedingungslosen Liebe für meine Mutter. Die Grenzen meiner eigenen Vergebung.“ (S. 276). Gerade diesen letzten Satz kann man immer wieder im Kopf rotieren lassen, es ist eine so treffende Beschreibung des Übergangs zwischen Kind und junger erwachsener Frau, der aufgrund der Umstände für Caitlin viel zu früh kam. Diese vielleicht erste, aber so heftige Abgrenzung zu den eigenen Eltern ist eine so tiefgreifende Erfahrung, dass man, wenn man sie auf diese Weise wie Caitlin machen muss, kaum besser beschreibbar ist als Vann es hier tut. Die Grenze der Vergebung ist erreicht. Und dieser Riss im Urvertrauen ist auch nie wieder zu kitten. Brutal gut geschrieben.
Das wirklich einzige Manko an diesem Buch ist meines Erachtens nach, dass die 12-jährige Caitlin viel zu jung ist, um die teilweise hochtrabenden und philosophischen Erkenntnisse über das Leben und die Menschen glaubhaft in ihrem Kopf zu wälzen. Natürlich gibt es frühreife Kinder, aber zu den vielen klugen Gedanken passt auch Caitlins Werdegang und Schuldbildung nicht wirklich. Es ist kein großes Hindernis, das Buch ist trotzdem eine Wucht. Aber ein kritischer Geist kann sich durchaus an Details wie diesem stören.
Aber dennoch, das Fazit bleibt eindeutig: ein großartiger Roman, unbedingt lesenswert. Aber mit der „Warnung“: er geht einem richtig nahe.
geschrieben am 25.04.2016 | 775 Wörter | 4254 Zeichen
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