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Perspektiven, Bd. 2: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus


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Rezension von

Daniel Bigalke

Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus Vor 36 Jahren erschien Gehlens (1904-1976) letztes Werk, in dem er sich in die politische Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands einmischte, um ihrem bedrückenden „Humanitarismus“ die Idee einer „pluralistischen Ethik“ für differenzierte Gesellschaften und die Idee einer differenzierteren Argumentationen entgegenzusetzen. Sein Werk wurde rege diskutiert und gewinnt im Zuge der wieder erstmals gesamtdeutschen Situation Bedeutung. Der Göttinger Gymnasiallehrer und Historiker Karlheinz Weißmann, Mitherausgeber der Zeitschrift „Sezession“, legt zeitgleich mit der im Junius-Verlag von Christian Thies verfaßten vergleichbaren Schrift eine Neureflexion über Gehlen vor. Das Buch gliedert sich in eine biographische Darstellung, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus seinem Denken, eine Bibliographie und in ein Kapitel, das die anthropologischen Fragen Gehlens beleuchtet. In diesem Kapitel stellt Weißmann heraus, welche Charakterzüge Gehlen bei den Deutschen erkannte: „den Idealismus, die Todessehnsucht, das Unpolitische“ und die sich darüber wölbende „Formfeindschaft der Deutschen“ (92). Damit gelingt es ihm, die Tiefgründigkeit des gehlenschen Denkens darzulegen, denn tatsächlich eignet sich jede dieser Beschreibungen für eine charakteristische Epoche deutscher Geschichte: die Philosophie des 19. Jahrhunderts, den 1. Weltkrieg, die Weimarer Republik Thomas Manns und die jegliche statische Form ablehnende Freiheit des „Anarchen“ aus Ernst Jüngers Roman „Eumeswil“ (1977), in dem er den deutschen „Anarchen“ vom Destruktivismus des bakuninschen „Anarchisten“ absetzt. Diese Hintergrundinformationen des konservativen Denkens, die zur Bildung eines angemessenen Eindrucks über Gehlen unerläßlich sind, fehlen in der erwähnten Monographie von Christian Thies. Weißmann beschreibt eindrücklich, warum sich Wirtschaft und Verbände um Gehlens Vorträge rissen, seine Lehre aber von akademischen Fachgelehrten skeptisch beäugt wurde. Gehlen betrachtet den Menschen in seinem ersten Hauptwerk „Der Mensch“ (1940) analytisch, um zu dem Schluß zu kommen, daß der Mensch aufgrund defizitärer biologischer Ausstattung ein „Mängelwesen“ sei. Daraus konvergieren mehrere Gedankengänge: Sonderstellung des Menschen, Weltoffenheit, Instinktreduktion und Antriebsüberschuß, der im Sinne der freudschen Sublimierung angestaut werden kann, einen Hiatus (Lücke zur Antriebsbefriedigung) bewirkt und dadurch kulturschöpferischen Effekt hat. Der Mensch - so Weißmann - wird zum sein eigenes Verhalten steuernden „Prometheus“ (25ff). Interessant ist, daß Gehlen sich auf biologische Forschungen konzentrierte und sich von der in Philologie verharrenden Schulphilosophie mit praktischem Anspruch abwandte. In Gehlens Insitutionenlehre aus „Urmensch und Spätkultur“ (1956) hebt Weißmann die Bedeutung von Ehe, Familie und religiösen Riten in Gehlens Werk hervor. Der nietzscheanische Einschlag in Gehlens Denken und die resultierende Abwendung von der traditionellen spekulativen Philosophie der Deutschen werden allerdings von Weißmann nur geringfügig reflektiert. So hätte er den für Gehlen wichtigen Begriff der „Kristallisation“ aus seinem letztem Buch „Moral und Hypermoral“ (1969), der für Weißmann eine zentrale Rolle einnimmt (69ff.) und die Versteinerung eines ökonomistischen Systems meint, tiefgründiger erfassen können. „Kristallisation“ meint nicht nur eine Kultur der Überraschunsglosigkeit und das Verschwinden des Mythischen, was Gehlen als Verlust der „großen Schlüsselattitüde“ kennzeichnete. Vielmehr meint „Kristallisation“ auch den Beginn eines neuen Zeitalters, den Fluß der Zeit, die Möglichkeit variierender Modalitäten in der Erscheinungswelt, zumeist als historische Kontingenz bezeichnet. Hier beginnt die durchaus spekulative Ebene im Werke Gehlens, denn jede Erstarrung trägt in sich die immanente Tendenz zur konstruktiven Evolution. Nicht jeder Idealismus ist dahingehend ausschließlich eine Utopie sondern kann auch ein an der Empirie orientierter realer Idealismus sein. Gehlen selbst - das übersieht Weißmann - beschreibt in seinem Werk „Der Mensch“ die Ebene des „ideativen“ Bewußtseins. Insofern scheint Weißmanns Untertitel „Vordenker eines neuen Realismus“ zwar gerechtfertigt, aber zugleich im Verkennen seiner idealistischen Substanz, die das nötige Korrelat einer Ungleichheit darstellt und die jedem Realismus innewohnt, zu reduktionistisch gefaßt zu sein. Die prägnante Schrift ist dennoch sehr zu empfehlen, praktiziert sie doch substanziell das erfassende Denken selbst, ohne lediglich subjektive Meinungen geltend machen zu wollen.

Vor 36 Jahren erschien Gehlens (1904-1976) letztes Werk, in dem er sich in die politische Vergangenheitsbewältigung Westdeutschlands einmischte, um ihrem bedrückenden „Humanitarismus“ die Idee einer „pluralistischen Ethik“ für differenzierte Gesellschaften und die Idee einer differenzierteren Argumentationen entgegenzusetzen. Sein Werk wurde rege diskutiert und gewinnt im Zuge der wieder erstmals gesamtdeutschen Situation Bedeutung. Der Göttinger Gymnasiallehrer und Historiker Karlheinz Weißmann, Mitherausgeber der Zeitschrift „Sezession“, legt zeitgleich mit der im Junius-Verlag von Christian Thies verfaßten vergleichbaren Schrift eine Neureflexion über Gehlen vor.

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Das Buch gliedert sich in eine biographische Darstellung, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus seinem Denken, eine Bibliographie und in ein Kapitel, das die anthropologischen Fragen Gehlens beleuchtet. In diesem Kapitel stellt Weißmann heraus, welche Charakterzüge Gehlen bei den Deutschen erkannte: „den Idealismus, die Todessehnsucht, das Unpolitische“ und die sich darüber wölbende „Formfeindschaft der Deutschen“ (92). Damit gelingt es ihm, die Tiefgründigkeit des gehlenschen Denkens darzulegen, denn tatsächlich eignet sich jede dieser Beschreibungen für eine charakteristische Epoche deutscher Geschichte: die Philosophie des 19. Jahrhunderts, den 1. Weltkrieg, die Weimarer Republik Thomas Manns und die jegliche statische Form ablehnende Freiheit des „Anarchen“ aus Ernst Jüngers Roman „Eumeswil“ (1977), in dem er den deutschen „Anarchen“ vom Destruktivismus des bakuninschen „Anarchisten“ absetzt. Diese Hintergrundinformationen des konservativen Denkens, die zur Bildung eines angemessenen Eindrucks über Gehlen unerläßlich sind, fehlen in der erwähnten Monographie von Christian Thies. Weißmann beschreibt eindrücklich, warum sich Wirtschaft und Verbände um Gehlens Vorträge rissen, seine Lehre aber von akademischen Fachgelehrten skeptisch beäugt wurde.

Gehlen betrachtet den Menschen in seinem ersten Hauptwerk „Der Mensch“ (1940) analytisch, um zu dem Schluß zu kommen, daß der Mensch aufgrund defizitärer biologischer Ausstattung ein „Mängelwesen“ sei. Daraus konvergieren mehrere Gedankengänge: Sonderstellung des Menschen, Weltoffenheit, Instinktreduktion und Antriebsüberschuß, der im Sinne der freudschen Sublimierung angestaut werden kann, einen Hiatus (Lücke zur Antriebsbefriedigung) bewirkt und dadurch kulturschöpferischen Effekt hat. Der Mensch - so Weißmann - wird zum sein eigenes Verhalten steuernden „Prometheus“ (25ff). Interessant ist, daß Gehlen sich auf biologische Forschungen konzentrierte und sich von der in Philologie verharrenden Schulphilosophie mit praktischem Anspruch abwandte. In Gehlens Insitutionenlehre aus „Urmensch und Spätkultur“ (1956) hebt Weißmann die Bedeutung von Ehe, Familie und religiösen Riten in Gehlens Werk hervor.

Der nietzscheanische Einschlag in Gehlens Denken und die resultierende Abwendung von der traditionellen spekulativen Philosophie der Deutschen werden allerdings von Weißmann nur geringfügig reflektiert. So hätte er den für Gehlen wichtigen Begriff der „Kristallisation“ aus seinem letztem Buch „Moral und Hypermoral“ (1969), der für Weißmann eine zentrale Rolle einnimmt (69ff.) und die Versteinerung eines ökonomistischen Systems meint, tiefgründiger erfassen können. „Kristallisation“ meint nicht nur eine Kultur der Überraschunsglosigkeit und das Verschwinden des Mythischen, was Gehlen als Verlust der „großen Schlüsselattitüde“ kennzeichnete. Vielmehr meint „Kristallisation“ auch den Beginn eines neuen Zeitalters, den Fluß der Zeit, die Möglichkeit variierender Modalitäten in der Erscheinungswelt, zumeist als historische Kontingenz bezeichnet. Hier beginnt die durchaus spekulative Ebene im Werke Gehlens, denn jede Erstarrung trägt in sich die immanente Tendenz zur konstruktiven Evolution. Nicht jeder Idealismus ist dahingehend ausschließlich eine Utopie sondern kann auch ein an der Empirie orientierter realer Idealismus sein. Gehlen selbst - das übersieht Weißmann - beschreibt in seinem Werk „Der Mensch“ die Ebene des „ideativen“ Bewußtseins. Insofern scheint Weißmanns Untertitel „Vordenker eines neuen Realismus“ zwar gerechtfertigt, aber zugleich im Verkennen seiner idealistischen Substanz, die das nötige Korrelat einer Ungleichheit darstellt und die jedem Realismus innewohnt, zu reduktionistisch gefaßt zu sein. Die prägnante Schrift ist dennoch sehr zu empfehlen, praktiziert sie doch substanziell das erfassende Denken selbst, ohne lediglich subjektive Meinungen geltend machen zu wollen.

geschrieben am 16.11.2006 | 577 Wörter | 3991 Zeichen

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