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Perspektiven, Bd. 6: Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland


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Rezension von

Daniel Bigalke

Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland Der Revolutionär verläßt die „Litanei von Frage und Antwort unserer Medien (..) und politischen Wissenschaft, die Kritik nur simulieren, weil sie ohne Konsequenzen bleibt“ - so schrieb Bernd Rabehl jüngst in einer Kolumne. Auch er möchte damit den leidenschaftslosen Historismus der akademischen Zunft überwinden und macht diesen Anspruch anhand der Perspektive Rudi Dutschkes (1940-1979) deutlich. Seine befehdete Studie bricht aus dem gewohnten Intelligenzbetrieb aus und beschreibt das Aufbegehren der Studenten von 1968. Zu Beginn macht Rabehl, bis 2003 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und einstiger Weggefährte Dutschkes, deutlich, daß es ihm nicht um eine Biographie geht, sondern darum, Dutschkes Denken im Sinne umfassender Neureflexion (Kapitel 5: „Neubesinnen“) aus den „historischen Zusammenhängen heraus zu entschlüsseln.“ (7). Die deutsche Nachkriegsdemokratie geriet 1968 durch Anklage in die Grundlagenkrise. Gemäß dem idealistischen Anspruch einer Konvergenz von Sollen und Sein verkündete Herbert Marcuse das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen. Die Aufklärung sei nur halb vollendet, und es klaffe eine irrationalistische Lücke zwischen freiheitlichen Proklamationen und den durch die Prärogativen des Besatzungstatuts vorgegebenen ökonomistischen Grundprinzipien der Bundesrepublik. So reicht bei Marcuse der Affekt gegen den verkürzten Rationalismus einer negativ bleibenden Aufklärung bis zur hegelschen Ästhetik und zum Vernunftidealismus Kants zurück. Im Zuge dieser Tendenzen macht Rabehl deutlich, daß die Studenten an ihrer Radikalisierung scheitern mußten und sich zu den Sachwaltern der halben Rationalität hin konformisierten (102ff.). In Kapiteln wie „Besetzung und Befreiung“ (32ff.) oder „Revolte“ (58ff.) wird deutlich, daß sogar für Dutschke nach 1945 die Deutschen zu den geschichtslosen Völkern gehörten (109), womit die Deutsche Ideologie nach der Wiedervereinigung - für Politologen wie Bernard Willms oder Hans-Joachim Arndt war das keine Überraschung - primär den nordamerikanischen Prinzipien folgte. Theoretische Abweichungen konnten nunmehr im Rahmen herrschaftsaffirmativer und staatlich alimentierter Politologie als „Extremismus“ (8) kategorisiert werden. Rabehl, selbst Opfer dieser Denunziationen geworden, weiß, daß kein Versuch unternommen wurde, das Phänomen des traditionellen deutschen Politikbegriffes, so beispielsweise seinen politischen Idealismus, die Apriorität der Vernunft und der Pflicht, die bei Hegel angelegte Reflexionstheorie oder die Phänomenologie menschlichen Geistes, aus sich selbst heraus zu erfassen. Die Rekonstituierung deutscher Staatlichkeit blieb nachhaltig um das Element der Jeweiligkeit, der eigenen deutschen Teilwahrheit, beschnitten. Die Stärke von Rabehls Buch liegt darin, daß es die reformierte Idee einer Dialektik der Freiheit, eines geradezu permanenten Gestaltungsauftrags - man erinnere sich an Artikel 146 des Grundgesetzes - am Glühen erhält. Es vermag deshalb konservative Aspekte im Sinne einer staatsphilosophischen Kontinuität erstmals bei Dutschke zu erkennen. Das Agieren der Parteien über inszenierte Werbefeldzüge und die politische Tendenz zur systemimmanenten Stagnation als faktischer Reproduktion des ewig Gleichen ließen Rudi Dutschke patriotische Konsequenzen ziehen. Seine revolutionären Motive speisten sich aus der Ablehnung dekretierter Besatzungspolitik. Rabehl läßt - wie einst 1968 - immer noch Funken sprühen. Der Leser mag selbst entscheiden, ob er im Gesamtkontext des Buches die autobiographischen Exkurse Rabehls über seine in München gehaltene Dutschke-Rede von 1998 oder die Abrechnung mit dem „Kartell der Lügen“ (119), das Gerüchte über sich selbst und Dutschke verbreitet haben soll, für hinderlich hält. Rabehls Plädoyer für den erneuten Versuch einer Staatspartei jenseits der in die Dominanzstrukturen des hegemonialen Pseudodiskurses eingebetteten „Volksparteien“ wird nur vor folgendem Hintergrund deutlich: Nation war für Dutschke - entgegen den Biographen Christian Dithfurth oder Gretchen Dutschke - eine Instanz des Freiheitskampfes. Rabehl gibt zu: „Plötzlich wurde ich von außen in das Denken von Dutschke gestoßen, und erst jetzt begriff ich seinen revolutionären Ansatz.“ Das Buch verdeutlicht also, daß der Sinn einer politischen Ordnung nicht die Tautologie ihrer alleinigen Existenz ist, sondern das Gemeinwohl. Rabehls Schrift, die sich von der üblichen Begriffsbildung einseitiger Wahrheitsansprüche abhebt, entwickelt Maßstäbe, von denen nicht zuletzt die heutige politische Wissenschaft profitieren könnte. Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen, Band 7 der Reihe Perspektiven, Edition Antaios Schnellroda, 2003, 154 S. Einer jeden Wissenschaft zu entrinnen, war das Anliegen Nicolás Gómes Dávilas (1913-1994), wenn er in seinen 1954 verfaßten „Notas“ - erstmals 2005 in deutscher Sprache veröffentlicht - schreibt: „Den starren Koordinaten der Wissenschaft wie der Unterdrückung durch die kollektiven Mythen zu entgehen, ist die Gegenwärtige Aufgabe des Geistes.“ Wer war dieser Mann, der provokant die Aufgabe des Geistes jenseits der Wissenschaft sieht und die Denunziationsvokabel „Reaktionär“ (el reaccionario) zum Ehrentitel modifizierte? Die Schrift von Till Kinzel - bisher die einzige Monographie über Dávila - gibt Aufschluß. Dávila war Meister der aphoristischen Verknappung, er war der kolumbianische Nietzsche. Kinzel ist in seinem Buch bemüht, alle notwendigen Zusammenhänge seines Denkens authentisch darzustellen und muß sich dafür einem permanenten Hagel an geschliffenen Gedanken, einem quasi-literarischen Stahlgewitter stellen, welches Ausdruck ästhetischer und ethischer Greuel über die moderne Gesellschaft ist. Dávila, angesehen in der Gesellschaft von Bogotá und jeglicher Inkorporartion in politische Ämter, die man ihm oft anbot, abhold, weilte viele Jahre im Kreise seiner Familie innerhalb seiner Bibliothek. Vor diesem ‘herzlich’ anmutenden Hintergrund verdeutlicht Kinzel den Kampf Dávilas gegen das „Problem der wuchernden sekundären Diskurse“ (18), die das Wesentliche im Leben verbergen, um sich dann auf das literarische Phänomen dieses merklich theologisch orientierten Denkers zu konzentrieren (27ff.). Gott war für Dávila der Kern der Dinge, von dessen Gnade der Mensch nur erhoffen könne, was er sich nicht selbst anmaßen dürfe. In seiner Ablehnung der Vulgaritäten des Tages, der Moderne überhaupt, ist Dávila nur vergleichbar mit dem spanischen Gegenaufklärer und „Reaktionär“ des 18. Jahrhunderts - Juan Donoso Cortés. Hier wird deutlich, daß auch das terminologische Konstrukt „Reaktionär“ bei wertfreier Betrachtung bereits eine variierende Modalität in sich birgt. „Reaktionär“ ist nicht gleich „Reaktionär“. Kinzel begibt sich hier - womöglich unbeabsichtigt - in die kantische Dialektik von umfassend empirisch reflektierten Erfahrungsurteilen, die objektive Geltung beanspruchen können, und lediglich subjektiv motivierten Wahrnehmungsurteilen, die deshalb wenig objektive Geltung beanspruchen dürfen. Wahrheit liegt in Abwandlung der kantischen transzendentalen Dialektik nicht in den Dingen selbst – hier in dem Begriff „Reaktionär“ - sondern in der dem Worte jeweils subjektiv zugeschriebenen Bedeutung, also in dem Urteil über das Wort, sofern es gedacht wird. Dieses Urteil muß deshalb möglichst rechtschaffen und an der Empirie orientiert sein, um sich von ihr nicht zu entkoppeln. Es wird dann zum Erfahrungsurteil. Terminologische Bedeutungen variieren je nach individueller Wahrnehmung. Kinzel hingegen bedient sich Botho Strauß’ als eines Kronzeugen: Der Reaktionär sei nicht Rückschrittler - man könnte ergänzen: zu dem ihn die maßgeblich von der Empirie entkoppelten Wahrnehmungsurteile und Herrschaftsstrukturen machen - sondern er schreitet voran, etwas Vergessenes zu revitalisieren. So gerät Kinzels Buch zugleich zu einer Phänomenologie des „Reaktionärs“, der je nach Motivation des Urteils variabel definiert werden könne, ein realistisches Bild vom Menschen habe und davor gefeit sei, einer utopischen Restauration des Verlorenen zu verfallen. Er bleibt Richter über die Dinge und gibt seinen Geist niemals der Partialrationalität temporärer Ideologien preis. Er schreitet voran. War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen. Setzte Dávila als Verfechter eines Schreibstils, der keiner formalistischen Gattung beizuordnen ist, auf das Pathos der Distanz zur Vulgarität des politischen Alltags, so kann gerade die zunächst inhaltliche Distanz des gegenwärtigen Lesers die eigentliche Voraussetzung zum ertragreichen Verständnis Dávilas sein. Dávila hätte im Sinne seiner „Notas“ dazu angemerkt: „Lesen heißt einen Stoß erhalten, einen Schlag spüren, auf ein Hindernis treffen.“

Der Revolutionär verläßt die „Litanei von Frage und Antwort unserer Medien (..) und politischen Wissenschaft, die Kritik nur simulieren, weil sie ohne Konsequenzen bleibt“ - so schrieb Bernd Rabehl jüngst in einer Kolumne. Auch er möchte damit den leidenschaftslosen Historismus der akademischen Zunft überwinden und macht diesen Anspruch anhand der Perspektive Rudi Dutschkes (1940-1979) deutlich. Seine befehdete Studie bricht aus dem gewohnten Intelligenzbetrieb aus und beschreibt das Aufbegehren der Studenten von 1968. Zu Beginn macht Rabehl, bis 2003 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin und einstiger Weggefährte Dutschkes, deutlich, daß es ihm nicht um eine Biographie geht, sondern darum, Dutschkes Denken im Sinne umfassender Neureflexion (Kapitel 5: „Neubesinnen“) aus den „historischen Zusammenhängen heraus zu entschlüsseln.“ (7).

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Die deutsche Nachkriegsdemokratie geriet 1968 durch Anklage in die Grundlagenkrise. Gemäß dem idealistischen Anspruch einer Konvergenz von Sollen und Sein verkündete Herbert Marcuse das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen. Die Aufklärung sei nur halb vollendet, und es klaffe eine irrationalistische Lücke zwischen freiheitlichen Proklamationen und den durch die Prärogativen des Besatzungstatuts vorgegebenen ökonomistischen Grundprinzipien der Bundesrepublik. So reicht bei Marcuse der Affekt gegen den verkürzten Rationalismus einer negativ bleibenden Aufklärung bis zur hegelschen Ästhetik und zum Vernunftidealismus Kants zurück. Im Zuge dieser Tendenzen macht Rabehl deutlich, daß die Studenten an ihrer Radikalisierung scheitern mußten und sich zu den Sachwaltern der halben Rationalität hin konformisierten (102ff.).

In Kapiteln wie „Besetzung und Befreiung“ (32ff.) oder „Revolte“ (58ff.) wird deutlich, daß sogar für Dutschke nach 1945 die Deutschen zu den geschichtslosen Völkern gehörten (109), womit die Deutsche Ideologie nach der Wiedervereinigung - für Politologen wie Bernard Willms oder Hans-Joachim Arndt war das keine Überraschung - primär den nordamerikanischen Prinzipien folgte. Theoretische Abweichungen konnten nunmehr im Rahmen herrschaftsaffirmativer und staatlich alimentierter Politologie als „Extremismus“ (8) kategorisiert werden. Rabehl, selbst Opfer dieser Denunziationen geworden, weiß, daß kein Versuch unternommen wurde, das Phänomen des traditionellen deutschen Politikbegriffes, so beispielsweise seinen politischen Idealismus, die Apriorität der Vernunft und der Pflicht, die bei Hegel angelegte Reflexionstheorie oder die Phänomenologie menschlichen Geistes, aus sich selbst heraus zu erfassen. Die Rekonstituierung deutscher Staatlichkeit blieb nachhaltig um das Element der Jeweiligkeit, der eigenen deutschen Teilwahrheit, beschnitten. Die Stärke von Rabehls Buch liegt darin, daß es die reformierte Idee einer Dialektik der Freiheit, eines geradezu permanenten Gestaltungsauftrags - man erinnere sich an Artikel 146 des Grundgesetzes - am Glühen erhält. Es vermag deshalb konservative Aspekte im Sinne einer staatsphilosophischen Kontinuität erstmals bei Dutschke zu erkennen. Das Agieren der Parteien über inszenierte Werbefeldzüge und die politische Tendenz zur systemimmanenten Stagnation als faktischer Reproduktion des ewig Gleichen ließen Rudi Dutschke patriotische Konsequenzen ziehen. Seine revolutionären Motive speisten sich aus der Ablehnung dekretierter Besatzungspolitik. Rabehl läßt - wie einst 1968 - immer noch Funken sprühen.

Der Leser mag selbst entscheiden, ob er im Gesamtkontext des Buches die autobiographischen Exkurse Rabehls über seine in München gehaltene Dutschke-Rede von 1998 oder die Abrechnung mit dem „Kartell der Lügen“ (119), das Gerüchte über sich selbst und Dutschke verbreitet haben soll, für hinderlich hält. Rabehls Plädoyer für den erneuten Versuch einer Staatspartei jenseits der in die Dominanzstrukturen des hegemonialen Pseudodiskurses eingebetteten „Volksparteien“ wird nur vor folgendem Hintergrund deutlich: Nation war für Dutschke - entgegen den Biographen Christian Dithfurth oder Gretchen Dutschke - eine Instanz des Freiheitskampfes. Rabehl gibt zu: „Plötzlich wurde ich von außen in das Denken von Dutschke gestoßen, und erst jetzt begriff ich seinen revolutionären Ansatz.“ Das Buch verdeutlicht also, daß der Sinn einer politischen Ordnung nicht die Tautologie ihrer alleinigen Existenz ist, sondern das Gemeinwohl. Rabehls Schrift, die sich von der üblichen Begriffsbildung einseitiger Wahrheitsansprüche abhebt, entwickelt Maßstäbe, von denen nicht zuletzt die heutige politische Wissenschaft profitieren könnte.

Till Kinzel: Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen, Band 7 der Reihe Perspektiven, Edition Antaios Schnellroda, 2003, 154 S.

Einer jeden Wissenschaft zu entrinnen, war das Anliegen Nicolás Gómes Dávilas (1913-1994), wenn er in seinen 1954 verfaßten „Notas“ - erstmals 2005 in deutscher Sprache veröffentlicht - schreibt: „Den starren Koordinaten der Wissenschaft wie der Unterdrückung durch die kollektiven Mythen zu entgehen, ist die Gegenwärtige Aufgabe des Geistes.“ Wer war dieser Mann, der provokant die Aufgabe des Geistes jenseits der Wissenschaft sieht und die Denunziationsvokabel „Reaktionär“ (el reaccionario) zum Ehrentitel modifizierte? Die Schrift von Till Kinzel - bisher die einzige Monographie über Dávila - gibt Aufschluß.

Dávila war Meister der aphoristischen Verknappung, er war der kolumbianische Nietzsche. Kinzel ist in seinem Buch bemüht, alle notwendigen Zusammenhänge seines Denkens authentisch darzustellen und muß sich dafür einem permanenten Hagel an geschliffenen Gedanken, einem quasi-literarischen Stahlgewitter stellen, welches Ausdruck ästhetischer und ethischer Greuel über die moderne Gesellschaft ist. Dávila, angesehen in der Gesellschaft von Bogotá und jeglicher Inkorporartion in politische Ämter, die man ihm oft anbot, abhold, weilte viele Jahre im Kreise seiner Familie innerhalb seiner Bibliothek. Vor diesem ‘herzlich’ anmutenden Hintergrund verdeutlicht Kinzel den Kampf Dávilas gegen das „Problem der wuchernden sekundären Diskurse“ (18), die das Wesentliche im Leben verbergen, um sich dann auf das literarische Phänomen dieses merklich theologisch orientierten Denkers zu konzentrieren (27ff.). Gott war für Dávila der Kern der Dinge, von dessen Gnade der Mensch nur erhoffen könne, was er sich nicht selbst anmaßen dürfe. In seiner Ablehnung der Vulgaritäten des Tages, der Moderne überhaupt, ist Dávila nur vergleichbar mit dem spanischen Gegenaufklärer und „Reaktionär“ des 18. Jahrhunderts - Juan Donoso Cortés.

Hier wird deutlich, daß auch das terminologische Konstrukt „Reaktionär“ bei wertfreier Betrachtung bereits eine variierende Modalität in sich birgt. „Reaktionär“ ist nicht gleich „Reaktionär“. Kinzel begibt sich hier - womöglich unbeabsichtigt - in die kantische Dialektik von umfassend empirisch reflektierten Erfahrungsurteilen, die objektive Geltung beanspruchen können, und lediglich subjektiv motivierten Wahrnehmungsurteilen, die deshalb wenig objektive Geltung beanspruchen dürfen. Wahrheit liegt in Abwandlung der kantischen transzendentalen Dialektik nicht in den Dingen selbst – hier in dem Begriff „Reaktionär“ - sondern in der dem Worte jeweils subjektiv zugeschriebenen Bedeutung, also in dem Urteil über das Wort, sofern es gedacht wird. Dieses Urteil muß deshalb möglichst rechtschaffen und an der Empirie orientiert sein, um sich von ihr nicht zu entkoppeln. Es wird dann zum Erfahrungsurteil. Terminologische Bedeutungen variieren je nach individueller Wahrnehmung. Kinzel hingegen bedient sich Botho Strauß’ als eines Kronzeugen: Der Reaktionär sei nicht Rückschrittler - man könnte ergänzen: zu dem ihn die maßgeblich von der Empirie entkoppelten Wahrnehmungsurteile und Herrschaftsstrukturen machen - sondern er schreitet voran, etwas Vergessenes zu revitalisieren. So gerät Kinzels Buch zugleich zu einer Phänomenologie des „Reaktionärs“, der je nach Motivation des Urteils variabel definiert werden könne, ein realistisches Bild vom Menschen habe und davor gefeit sei, einer utopischen Restauration des Verlorenen zu verfallen. Er bleibt Richter über die Dinge und gibt seinen Geist niemals der Partialrationalität temporärer Ideologien preis. Er schreitet voran. War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen. Setzte Dávila als Verfechter eines Schreibstils, der keiner formalistischen Gattung beizuordnen ist, auf das Pathos der Distanz zur Vulgarität des politischen Alltags, so kann gerade die zunächst inhaltliche Distanz des gegenwärtigen Lesers die eigentliche Voraussetzung zum ertragreichen Verständnis Dávilas sein. Dávila hätte im Sinne seiner „Notas“ dazu angemerkt: „Lesen heißt einen Stoß erhalten, einen Schlag spüren, auf ein Hindernis treffen.“

geschrieben am 16.11.2006 | 1157 Wörter | 7649 Zeichen

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