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Perspektiven, Bd. 7: Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen


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Rezension von

Daniel Bigalke

Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen Einer jeden Wissenschaft zu entrinnen, war das Anliegen Nicolás Gómes Dávilas (1913-1994), wenn er in seinen 1954 verfaßten „Notas“ - erstmals 2005 in deutscher Sprache veröffentlicht - schreibt: „Den starren Koordinaten der Wissenschaft wie der Unterdrückung durch die kollektiven Mythen zu entgehen, ist die Gegenwärtige Aufgabe des Geistes.“ Wer war dieser Mann, der provokant die Aufgabe des Geistes jenseits der Wissenschaft sieht und die Denunziationsvokabel „Reaktionär“ (el reaccionario) zum Ehrentitel modifizierte? Die Schrift von Till Kinzel - bisher die einzige Monographie über Dávila - gibt Aufschluß. Dávila war Meister der aphoristischen Verknappung, er war der kolumbianische Nietzsche. Kinzel ist in seinem Buch bemüht, alle notwendigen Zusammenhänge seines Denkens authentisch darzustellen und muß sich dafür einem permanenten Hagel an geschliffenen Gedanken, einem quasi-literarischen Stahlgewitter stellen, welches Ausdruck ästhetischer und ethischer Greuel über die moderne Gesellschaft ist. Dávila, angesehen in der Gesellschaft von Bogotá und jeglicher Inkorporartion in politische Ämter, die man ihm oft anbot, abhold, weilte viele Jahre im Kreise seiner Familie innerhalb seiner Bibliothek. Vor diesem ‘herzlich’ anmutenden Hintergrund verdeutlicht Kinzel den Kampf Dávilas gegen das „Problem der wuchernden sekundären Diskurse“ (18), die das Wesentliche im Leben verbergen, um sich dann auf das literarische Phänomen dieses merklich theologisch orientierten Denkers zu konzentrieren (27ff.). Gott war für Dávila der Kern der Dinge, von dessen Gnade der Mensch nur erhoffen könne, was er sich nicht selbst anmaßen dürfe. In seiner Ablehnung der Vulgaritäten des Tages, der Moderne überhaupt, ist Dávila nur vergleichbar mit dem spanischen Gegenaufklärer und „Reaktionär“ des 18. Jahrhunderts - Juan Donoso Cortés. Hier wird deutlich, daß auch das terminologische Konstrukt „Reaktionär“ bei wertfreier Betrachtung bereits eine variierende Modalität in sich birgt. „Reaktionär“ ist nicht gleich „Reaktionär“. Kinzel begibt sich hier - womöglich unbeabsichtigt - in die kantische Dialektik von umfassend empirisch reflektierten Erfahrungsurteilen, die objektive Geltung beanspruchen können, und lediglich subjektiv motivierten Wahrnehmungsurteilen, die deshalb wenig objektive Geltung beanspruchen dürfen. Wahrheit liegt in Abwandlung der kantischen transzendentalen Dialektik nicht in den Dingen selbst – hier in dem Begriff „Reaktionär“ - sondern in der dem Worte jeweils subjektiv zugeschriebenen Bedeutung, also in dem Urteil über das Wort, sofern es gedacht wird. Dieses Urteil muß deshalb möglichst rechtschaffen und an der Empirie orientiert sein, um sich von ihr nicht zu entkoppeln. Es wird dann zum Erfahrungsurteil. Terminologische Bedeutungen variieren je nach individueller Wahrnehmung. Kinzel hingegen bedient sich Botho Strauß’ als eines Kronzeugen: Der Reaktionär sei nicht Rückschrittler - man könnte ergänzen: zu dem ihn die maßgeblich von der Empirie entkoppelten Wahrnehmungsurteile und Herrschaftsstrukturen machen - sondern er schreitet voran, etwas Vergessenes zu revitalisieren. So gerät Kinzels Buch zugleich zu einer Phänomenologie des „Reaktionärs“, der je nach Motivation des Urteils variabel definiert werden könne, ein realistisches Bild vom Menschen habe und davor gefeit sei, einer utopischen Restauration des Verlorenen zu verfallen. Er bleibt Richter über die Dinge und gibt seinen Geist niemals der Partialrationalität temporärer Ideologien preis. Er schreitet voran. War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen. Setzte Dávila als Verfechter eines Schreibstils, der keiner formalistischen Gattung beizuordnen ist, auf das Pathos der Distanz zur Vulgarität des politischen Alltags, so kann gerade die zunächst inhaltliche Distanz des gegenwärtigen Lesers die eigentliche Voraussetzung zum ertragreichen Verständnis Dávilas sein. Dávila hätte im Sinne seiner „Notas“ dazu angemerkt: „Lesen heißt einen Stoß erhalten, einen Schlag spüren, auf ein Hindernis treffen.“

Einer jeden Wissenschaft zu entrinnen, war das Anliegen Nicolás Gómes Dávilas (1913-1994), wenn er in seinen 1954 verfaßten „Notas“ - erstmals 2005 in deutscher Sprache veröffentlicht - schreibt: „Den starren Koordinaten der Wissenschaft wie der Unterdrückung durch die kollektiven Mythen zu entgehen, ist die Gegenwärtige Aufgabe des Geistes.“ Wer war dieser Mann, der provokant die Aufgabe des Geistes jenseits der Wissenschaft sieht und die Denunziationsvokabel „Reaktionär“ (el reaccionario) zum Ehrentitel modifizierte? Die Schrift von Till Kinzel - bisher die einzige Monographie über Dávila - gibt Aufschluß.

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Dávila war Meister der aphoristischen Verknappung, er war der kolumbianische Nietzsche. Kinzel ist in seinem Buch bemüht, alle notwendigen Zusammenhänge seines Denkens authentisch darzustellen und muß sich dafür einem permanenten Hagel an geschliffenen Gedanken, einem quasi-literarischen Stahlgewitter stellen, welches Ausdruck ästhetischer und ethischer Greuel über die moderne Gesellschaft ist. Dávila, angesehen in der Gesellschaft von Bogotá und jeglicher Inkorporartion in politische Ämter, die man ihm oft anbot, abhold, weilte viele Jahre im Kreise seiner Familie innerhalb seiner Bibliothek. Vor diesem ‘herzlich’ anmutenden Hintergrund verdeutlicht Kinzel den Kampf Dávilas gegen das „Problem der wuchernden sekundären Diskurse“ (18), die das Wesentliche im Leben verbergen, um sich dann auf das literarische Phänomen dieses merklich theologisch orientierten Denkers zu konzentrieren (27ff.). Gott war für Dávila der Kern der Dinge, von dessen Gnade der Mensch nur erhoffen könne, was er sich nicht selbst anmaßen dürfe. In seiner Ablehnung der Vulgaritäten des Tages, der Moderne überhaupt, ist Dávila nur vergleichbar mit dem spanischen Gegenaufklärer und „Reaktionär“ des 18. Jahrhunderts - Juan Donoso Cortés.

Hier wird deutlich, daß auch das terminologische Konstrukt „Reaktionär“ bei wertfreier Betrachtung bereits eine variierende Modalität in sich birgt. „Reaktionär“ ist nicht gleich „Reaktionär“. Kinzel begibt sich hier - womöglich unbeabsichtigt - in die kantische Dialektik von umfassend empirisch reflektierten Erfahrungsurteilen, die objektive Geltung beanspruchen können, und lediglich subjektiv motivierten Wahrnehmungsurteilen, die deshalb wenig objektive Geltung beanspruchen dürfen. Wahrheit liegt in Abwandlung der kantischen transzendentalen Dialektik nicht in den Dingen selbst – hier in dem Begriff „Reaktionär“ - sondern in der dem Worte jeweils subjektiv zugeschriebenen Bedeutung, also in dem Urteil über das Wort, sofern es gedacht wird. Dieses Urteil muß deshalb möglichst rechtschaffen und an der Empirie orientiert sein, um sich von ihr nicht zu entkoppeln. Es wird dann zum Erfahrungsurteil. Terminologische Bedeutungen variieren je nach individueller Wahrnehmung. Kinzel hingegen bedient sich Botho Strauß’ als eines Kronzeugen: Der Reaktionär sei nicht Rückschrittler - man könnte ergänzen: zu dem ihn die maßgeblich von der Empirie entkoppelten Wahrnehmungsurteile und Herrschaftsstrukturen machen - sondern er schreitet voran, etwas Vergessenes zu revitalisieren. So gerät Kinzels Buch zugleich zu einer Phänomenologie des „Reaktionärs“, der je nach Motivation des Urteils variabel definiert werden könne, ein realistisches Bild vom Menschen habe und davor gefeit sei, einer utopischen Restauration des Verlorenen zu verfallen. Er bleibt Richter über die Dinge und gibt seinen Geist niemals der Partialrationalität temporärer Ideologien preis. Er schreitet voran. War Dávila niemals um eine wachsende Leserschaft bemüht, so ist doch dem Buche Kinzels eine große Verbreitung zu wünschen. Setzte Dávila als Verfechter eines Schreibstils, der keiner formalistischen Gattung beizuordnen ist, auf das Pathos der Distanz zur Vulgarität des politischen Alltags, so kann gerade die zunächst inhaltliche Distanz des gegenwärtigen Lesers die eigentliche Voraussetzung zum ertragreichen Verständnis Dávilas sein. Dávila hätte im Sinne seiner „Notas“ dazu angemerkt: „Lesen heißt einen Stoß erhalten, einen Schlag spüren, auf ein Hindernis treffen.“

geschrieben am 16.11.2006 | 547 Wörter | 3543 Zeichen

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