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Perspektiven, Bd. 8: Leon Bloy. Pilger des Absoluten


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Rezension von

Daniel Bigalke

Leon Bloy. Pilger des Absoluten Ist dem Leser Dávila kein Hindernis, so wird er womöglich bei der Lektüre Leon Bloys (1846-1917) an seine Grenzen gelangen. Dem promovierten Historiker und Germanisten Alexander Pschera ist es zu verdanken, diesem Fall entgegenzuwirken und eine einführende Studie zu Bloy vorzulegen. „Warum sollte man also heute noch Bloy lesen? Und vor allem wie? Das vorliegende Buch versucht, auf beide Fragen eine Antwort zu geben.“ (9). Damit ist sein Programm umrissen. Es geht darum, dem Namen „Bloy“ wieder einen Klang zu verleihen, und er benutzt dazu eine spezifische Strategie. Er stellt dem Leser zunächst Ernst Jünger (1895-1998) vor, der ein Mensch mit besonderer Sichtweise der Wirklichkeit gewesen sei, einer Sichtweise, die alle Gegensätze vereint. Jünger nannte diese Sichtweise „stereoskopisch“. Pschera nimmt also zunächst einen Exkurs zum stereoskopischen Lesen vor (9ff). Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre komplementär. Pschera ordnet über diesen Weg das für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Denken Bloys in einen größeren Kontext ein und begründet zu diesem Zweck über die Stereoskopie im Sinne der Dialektik von Text- und Sachzugang eine annähernd neue Objektivität der Haltungen gegenüber diesem verschollenen Autoren. War das sechzehnbändige Werk Bloys von christlicher Anthropologie und Schmerz geprägt, entfaltete es sich entsprechend radikal, so stellt der literarische Bloy („Gott zieht sich zurück“) nunmehr den Teil eines Gesamten dar, der komplementär zu Nietzsche („Gott ist tot“) und Jünger gesehen werden muß (17). Bloy, 1868 Sekretär des Schriftstellers Jules Barbey d’Aurevilly und von diesem zum Katholizismus bekehrt, erkennt eine progressive, von Gott gelenkte Heilsgeschichte, während Nietzsche bekanntlich nur eine „Wiederkehr des Gleichen“ proklamierte. Das Buch Pscheras zehrt, so verdeutlicht dieses Beispiel, von einer erfolgreich eingesetzten Spannung, die sich aus der Anwendung des dialektischen (stereoskopischen) Bogens beim Lesen speist. Dieser Effekt einer tiefergehenden Reflexion über das Werk Bloys ist eine eindrucksvolle Leistung. Ohne sie wäre Bloy als „katholischer Fanatiker“, der sich selbst als Werkzeug Gottes sah, kaum einem heutigen Publikum nahezubringen. Der aufmerksame Leser vermißt allerdings bei Pschera den Versuch, die dialektische Komponente im Werke Bloys selbst ausfindig zu machen. Dies wäre durchaus möglich. So etwa wenn es heißt: „Die Sprache selbst hat für Bloy keine Wahrheit, weil diese Wahrheit deutbar und damit relativ wäre. (...) Die Wahrheit und die Erkenntnis dieser Wahrheit sind der Sprache immer vorgeordnet.“ Das dialektische Moment liegt gerade darin, Wahrheit nicht an formelle Eigenschaften von Sprache zu knüpfen, sondern darin, sich von der Verpflichtung auf immanente Semantik zu befreien, um eine apriorisch verankerte und im vorsprachlichen Sinnbezug verankerte Pluralisierung der Wahrheit anzustreben. Hier wäre also die spekulativ-idealistische Komponente im Denken Bloys auszumachen, die Pschera übersieht. Mit Bloy ist davon auszugehen, daß man nicht um einen bestimmten Sinn von Empirizität und Aposteriorität wissen kann, ohne zuvor mit einem nichtempirischen Sinn, einem vorgeordneten Apriori in Korrelation zu stehen. Es gibt bei Bloy nicht die eindeutige „Absage an den Idealismus“ (35), welche Pschera feststellen zu müssen glaubt. War doch für Bloy selbst in panlogistisch-pantheistischer Manier alles Geschehende, so wie bei Hegel die gesamte Geschichte, Emanation des göttlichen Willens, eines treibenden Weltgeistes. Zu Lebzeiten blieb Leon Bloy der schriftstellerische Erfolg versagt. Er erlitt schwere Schicksalsschläge, den Tod seiner Kinder und seiner von ihm zum katholischen Glauben bekehrten Frau. Seine Stärke war die polemische Lakonik, auch die vulgäre Polemik, weswegen Jünger Bloy einen „Zwillingskristall aus Diamant und Kot“ nannte. Bloy war der Pilger einer Absolutheit des Ich, für den Leiden und Schmerz erst zum Leben hinführten. Freilich speiste sich daraus seine Polemik gegen ein verbürgerlichtes Christentum, für das er harte Worte fand. Im „Schweinetum der Moderne“ - so Bloy - stand er als Vertreter des „Renouveau catholique“ für einen kompromißlosen Glauben. Das Buch Pscheras endet mit einem Epilog, der sich mit Heinrich Böll befaßt, welcher ähnlich wie Jünger im besetzten Paris des zweiten Weltkrieges auf die Werke Bloys stieß und diese 1936 zu schätzen lernte: „...diesen Mann, den ich am meisten liebe von allen, die je in Europa Bücher geschrieben haben.“ Das in der Reihe „Perspektiven“ vorläufig letzte Buch hat Bloy nicht nur der Vergessenheit entrissen, sondern in einen umfassenden Gesamtkontext eingeordnet, der zur stereoskopischen Lektüre herausfordert. Es bleibt zu wünschen, daß zudem so mancher Leser daraus den Entschluß zur stereoskopischen Betrachtung der Realität, zum entsprechend handelnden Sachzugang hervorgehend aus dem methodischen Textzugang, faßt, würde dies doch wahre Integration und Toleranz verheißen. Insgesamt ist es der Reihe „Perspektiven“ hoch anzurechnen, daß sie dem Anspruch des Wissenschaftsbegriffs von Max Weber folgt, das Substanzielle und überhaupt Wißbare mit möglichst praktizierter Wertfreiheit zu ergründen und den jeweiligen Wahrheitskern geistiger Phänomene hervortreten zu lassen. Die Wissenschaft wird damit selbst substanziell, ohne sich von ideologischen Widersprüchen bestimmen zu lassen und sich auf diese je nach Geschick auszurichten. Wahrheit kann nur sinnvoll erfaßt werden, wenn sich ein entsprechender Wille zur Wahrheit gleichzeitig der Mannigfaltigkeit des Empirischen gewachsen zeigt. Diesem Anspruch trägt dieses letzte Bändchen über Bloy neben allen weiteren sieben Bändchen Rechnung. Das Resultat: Der Geist des Antaios lebt noch; Herakles zehrt bis heute von ihm. Nach Durchschreiten des bisherigen Bogens kann man gespannt sein, welche/r Verschollene sonst noch dem vergeßlichen Zeitgeist entrissen wird.

Ist dem Leser Dávila kein Hindernis, so wird er womöglich bei der Lektüre Leon Bloys (1846-1917) an seine Grenzen gelangen. Dem promovierten Historiker und Germanisten Alexander Pschera ist es zu verdanken, diesem Fall entgegenzuwirken und eine einführende Studie zu Bloy vorzulegen. „Warum sollte man also heute noch Bloy lesen? Und vor allem wie? Das vorliegende Buch versucht, auf beide Fragen eine Antwort zu geben.“ (9). Damit ist sein Programm umrissen. Es geht darum, dem Namen „Bloy“ wieder einen Klang zu verleihen, und er benutzt dazu eine spezifische Strategie. Er stellt dem Leser zunächst Ernst Jünger (1895-1998) vor, der ein Mensch mit besonderer Sichtweise der Wirklichkeit gewesen sei, einer Sichtweise, die alle Gegensätze vereint. Jünger nannte diese Sichtweise „stereoskopisch“. Pschera nimmt also zunächst einen Exkurs zum stereoskopischen Lesen vor (9ff).

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Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre komplementär. Pschera ordnet über diesen Weg das für heutige Verhältnisse ungewöhnliche Denken Bloys in einen größeren Kontext ein und begründet zu diesem Zweck über die Stereoskopie im Sinne der Dialektik von Text- und Sachzugang eine annähernd neue Objektivität der Haltungen gegenüber diesem verschollenen Autoren. War das sechzehnbändige Werk Bloys von christlicher Anthropologie und Schmerz geprägt, entfaltete es sich entsprechend radikal, so stellt der literarische Bloy („Gott zieht sich zurück“) nunmehr den Teil eines Gesamten dar, der komplementär zu Nietzsche („Gott ist tot“) und Jünger gesehen werden muß (17). Bloy, 1868 Sekretär des Schriftstellers Jules Barbey d’Aurevilly und von diesem zum Katholizismus bekehrt, erkennt eine progressive, von Gott gelenkte Heilsgeschichte, während Nietzsche bekanntlich nur eine „Wiederkehr des Gleichen“ proklamierte. Das Buch Pscheras zehrt, so verdeutlicht dieses Beispiel, von einer erfolgreich eingesetzten Spannung, die sich aus der Anwendung des dialektischen (stereoskopischen) Bogens beim Lesen speist. Dieser Effekt einer tiefergehenden Reflexion über das Werk Bloys ist eine eindrucksvolle Leistung. Ohne sie wäre Bloy als „katholischer Fanatiker“, der sich selbst als Werkzeug Gottes sah, kaum einem heutigen Publikum nahezubringen.

Der aufmerksame Leser vermißt allerdings bei Pschera den Versuch, die dialektische Komponente im Werke Bloys selbst ausfindig zu machen. Dies wäre durchaus möglich. So etwa wenn es heißt: „Die Sprache selbst hat für Bloy keine Wahrheit, weil diese Wahrheit deutbar und damit relativ wäre. (...) Die Wahrheit und die Erkenntnis dieser Wahrheit sind der Sprache immer vorgeordnet.“ Das dialektische Moment liegt gerade darin, Wahrheit nicht an formelle Eigenschaften von Sprache zu knüpfen, sondern darin, sich von der Verpflichtung auf immanente Semantik zu befreien, um eine apriorisch verankerte und im vorsprachlichen Sinnbezug verankerte Pluralisierung der Wahrheit anzustreben. Hier wäre also die spekulativ-idealistische Komponente im Denken Bloys auszumachen, die Pschera übersieht. Mit Bloy ist davon auszugehen, daß man nicht um einen bestimmten Sinn von Empirizität und Aposteriorität wissen kann, ohne zuvor mit einem nichtempirischen Sinn, einem vorgeordneten Apriori in Korrelation zu stehen. Es gibt bei Bloy nicht die eindeutige „Absage an den Idealismus“ (35), welche Pschera feststellen zu müssen glaubt. War doch für Bloy selbst in panlogistisch-pantheistischer Manier alles Geschehende, so wie bei Hegel die gesamte Geschichte, Emanation des göttlichen Willens, eines treibenden Weltgeistes.

Zu Lebzeiten blieb Leon Bloy der schriftstellerische Erfolg versagt. Er erlitt schwere Schicksalsschläge, den Tod seiner Kinder und seiner von ihm zum katholischen Glauben bekehrten Frau. Seine Stärke war die polemische Lakonik, auch die vulgäre Polemik, weswegen Jünger Bloy einen „Zwillingskristall aus Diamant und Kot“ nannte. Bloy war der Pilger einer Absolutheit des Ich, für den Leiden und Schmerz erst zum Leben hinführten. Freilich speiste sich daraus seine Polemik gegen ein verbürgerlichtes Christentum, für das er harte Worte fand. Im „Schweinetum der Moderne“ - so Bloy - stand er als Vertreter des „Renouveau catholique“ für einen kompromißlosen Glauben. Das Buch Pscheras endet mit einem Epilog, der sich mit Heinrich Böll befaßt, welcher ähnlich wie Jünger im besetzten Paris des zweiten Weltkrieges auf die Werke Bloys stieß und diese 1936 zu schätzen lernte: „...diesen Mann, den ich am meisten liebe von allen, die je in Europa Bücher geschrieben haben.“ Das in der Reihe „Perspektiven“ vorläufig letzte Buch hat Bloy nicht nur der Vergessenheit entrissen, sondern in einen umfassenden Gesamtkontext eingeordnet, der zur stereoskopischen Lektüre herausfordert. Es bleibt zu wünschen, daß zudem so mancher Leser daraus den Entschluß zur stereoskopischen Betrachtung der Realität, zum entsprechend handelnden Sachzugang hervorgehend aus dem methodischen Textzugang, faßt, würde dies doch wahre Integration und Toleranz verheißen.

Insgesamt ist es der Reihe „Perspektiven“ hoch anzurechnen, daß sie dem Anspruch des Wissenschaftsbegriffs von Max Weber folgt, das Substanzielle und überhaupt Wißbare mit möglichst praktizierter Wertfreiheit zu ergründen und den jeweiligen Wahrheitskern geistiger Phänomene hervortreten zu lassen. Die Wissenschaft wird damit selbst substanziell, ohne sich von ideologischen Widersprüchen bestimmen zu lassen und sich auf diese je nach Geschick auszurichten. Wahrheit kann nur sinnvoll erfaßt werden, wenn sich ein entsprechender Wille zur Wahrheit gleichzeitig der Mannigfaltigkeit des Empirischen gewachsen zeigt. Diesem Anspruch trägt dieses letzte Bändchen über Bloy neben allen weiteren sieben Bändchen Rechnung. Das Resultat: Der Geist des Antaios lebt noch; Herakles zehrt bis heute von ihm. Nach Durchschreiten des bisherigen Bogens kann man gespannt sein, welche/r Verschollene sonst noch dem vergeßlichen Zeitgeist entrissen wird.

geschrieben am 16.11.2006 | 866 Wörter | 5381 Zeichen

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