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Die 60er Jahre – Eine dynamische Gesellschaft


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Rezension von

Benjamin Städter

Die 60er Jahre – Eine dynamische Gesellschaft In teils drastischen Worten konstatierten noch vor wenigen Jahren einige Historiker die mangelnde Aufmerksamkeit ihrer Zunftgenossen für das Bildliche. So meinte etwa der Göttinger Kulturhistoriker Habbo Knoch eine „Ikonophobie“ unter den akademischen Gelehrten ausmachen zu können, die in der Popularisierung der Bilder als Massenphänomen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ihren Anfang nahm. (1) Dem Zerrbild eines sich der Bilder verweigernden Historikers entgegenzutreten versucht nun der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum mit seiner mehrbändigen Bildergeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der zweite Band „Die 60er Jahre. Eine dynamische Gesellschaft“ präsentiert rund 100 Fotografien aus dem Archiv der Deutschen Presseagentur. Dabei beinhaltet die Zusammenschau einige Bilder, die als visuelle Ikonen der bundesrepublikanischen Geschichte bereits zum Inventar der kollektiven Erinnerung zu zählen sind. Hier denke man etwa an das Bild der beiden Staatsmänner de Gaulle und Adenauer, die sich 1962 nach Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags herzlich umarmen (S.59). Der Schwerpunkt des Bandes, so betont der Autor in seiner Einleitung, „liegt jedoch auf solchen Bildern, die unbekannt sind und an denen doch eigentümliche Entdeckungen gemacht werden können.“ (S.7) Durchgehendes Deutungsmuster, das sich als roter Faden durch die Analyse Wolfrums zieht, ist das Interpretament des dynamischen Wandels, der teils schicksalhaften Veränderung der bundesrepublikanischen Politik, Wirtschaft und Kultur. So zeigt etwa das erste Kapitel, das sich mit der inneren Entwicklung der Bundesrepublik befasst, Bilder aus dem September 1961, auf denen Ostberliner Bürger verzweifelt versuchen, die gerade errichtete Berliner Mauer zu überwinden (S.18-25). Das zweite Kapitel mit dem Titel „Außenpolitik vor neuen Herausforderungen“ beschäftigt sich nicht nur mit Bildern der deutschen Außenpolitik, sondern ebenso mit den dramatischen weltpolitischen Entwicklungen der 60er Jahre: so etwa das Bild des Prager Frühlings, das sowjetische Panzer und aufgebrachte Prager Bürger in der tschechoslowakischen Hauptstadt zeigt (S.71). Stets sind die Fotografien geprägt von einer bedrohlich anmutenden Spannung zweier sich unversöhnlich gegenüberstehenden Antagonismen: Kommunismus und Kapitalismus, Repression und freiheitliche Demokratie, militärische Bedrohung und vergnügte Freizeitgestaltung. Sie alle geben Auskunft über eine tief gespaltenen Weltordnordnung im großen und die inneren Konflikte der westlichen Demokratien im kleinen. Gesellschaftlicher Wandel, so scheinen Bilder und Interpretationen des Autors nahe zu legen, offenbarte sich in den 60er Jahre eben nicht als allseits akzeptierte Erneuerung, sondern war vielmehr stets begleitet von der spannungsgeladenen Auseinandersetzung zwischen mehreren Alternativen. Auf die Bilder des fortschreitenden Wirtschaftsaufschwungs, die am Anfang des Kapitels „Wirtschaft. Der große Boom und erste Krisen“ stehen, folgen Szenen des einsetzenden Zechensterbens, Vorboten und zugleich Ausdruck der Ende der 1960er Jahre einsetzenden Rezession der bundesrepublikanischen Wirtschaft. Auch wenn sich diese im Nachhinein nur als kleinere Wachstumsdelle entpuppte, zeugen etwa die 10.000 Menschen, die 1967 in Oberhausen gegen Zechenschließungen demonstrierten, von der kollektiven Angst einer ganzen Berufsgruppe vor dem persönlichen wirtschaftlichen Abstieg (S.89). Eine wahrhaft ubiquitäre Sammlung von Bildern präsentiert das abschließende Kapitel „Gesellschaft und Kultur im Umbruch“. Neben den bekannten Ikonen des gesellschaftlich-kulturellen Wandels wie den Beatles (S.116), dem Woodstockfestival von 1969 (S.118) stehen das nicht minder berühmte Wembleytor von 1966 (S.122) oder der weltweit beachtete Eichmannprozesses in Jerusalem von 1962 (S.129). Mit dem zweiten Band seiner Bildergeschichte der Bundesrepublik präsentiert Edgar Wolfrum somit eine ebenso informative wie unterhaltsame Zusammenstellung von Pressefotografien. Auch das durchgehende Deutungsmuster des dynamisch-nervösen Wandels kann zweifelsohne überzeugen. Eine generelle Frage, die sich an eine mit Bildern arbeitende Geschichtsschreibung richtet, muss jedoch auch hier gestellt werden: Was kann eine Visual History leisten, was eine traditionelle Historiographie nicht leisten kann? Wo unterschieden sich die Deutungen, die die Bilder nahe legen, von den Interpretationen, die sich dem Historiker aus den traditionellen schriftlichen Quellen erschließen? Wolfrums Zusammenschau, so gilt es zu konstatieren, unterstreicht zumeist die Deutungen, die der Autor bereits in seiner viel beachteten Gesamtstudie zur bundesrepublikanischen Geschichte vorgestellt hat (Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006). Somit bleibt zu hinterfragen, ob die Bilder nicht doch nur der Illustration der durch eine traditionelle Geschichtsschreibung gewonnenen Einsichten dienen. (1) Habbo Knoch: "Renaissance der Bildanalyse in der Neuen Kulturgeschichte", in: Historisches Forum 5 (2005), S. 49 - 62.

In teils drastischen Worten konstatierten noch vor wenigen Jahren einige Historiker die mangelnde Aufmerksamkeit ihrer Zunftgenossen für das Bildliche. So meinte etwa der Göttinger Kulturhistoriker Habbo Knoch eine „Ikonophobie“ unter den akademischen Gelehrten ausmachen zu können, die in der Popularisierung der Bilder als Massenphänomen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ihren Anfang nahm. (1)

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Dem Zerrbild eines sich der Bilder verweigernden Historikers entgegenzutreten versucht nun der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum mit seiner mehrbändigen Bildergeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der zweite Band „Die 60er Jahre. Eine dynamische Gesellschaft“ präsentiert rund 100 Fotografien aus dem Archiv der Deutschen Presseagentur. Dabei beinhaltet die Zusammenschau einige Bilder, die als visuelle Ikonen der bundesrepublikanischen Geschichte bereits zum Inventar der kollektiven Erinnerung zu zählen sind. Hier denke man etwa an das Bild der beiden Staatsmänner de Gaulle und Adenauer, die sich 1962 nach Unterzeichnung des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrags herzlich umarmen (S.59). Der Schwerpunkt des Bandes, so betont der Autor in seiner Einleitung, „liegt jedoch auf solchen Bildern, die unbekannt sind und an denen doch eigentümliche Entdeckungen gemacht werden können.“ (S.7)

Durchgehendes Deutungsmuster, das sich als roter Faden durch die Analyse Wolfrums zieht, ist das Interpretament des dynamischen Wandels, der teils schicksalhaften Veränderung der bundesrepublikanischen Politik, Wirtschaft und Kultur. So zeigt etwa das erste Kapitel, das sich mit der inneren Entwicklung der Bundesrepublik befasst, Bilder aus dem September 1961, auf denen Ostberliner Bürger verzweifelt versuchen, die gerade errichtete Berliner Mauer zu überwinden (S.18-25). Das zweite Kapitel mit dem Titel „Außenpolitik vor neuen Herausforderungen“ beschäftigt sich nicht nur mit Bildern der deutschen Außenpolitik, sondern ebenso mit den dramatischen weltpolitischen Entwicklungen der 60er Jahre: so etwa das Bild des Prager Frühlings, das sowjetische Panzer und aufgebrachte Prager Bürger in der tschechoslowakischen Hauptstadt zeigt (S.71). Stets sind die Fotografien geprägt von einer bedrohlich anmutenden Spannung zweier sich unversöhnlich gegenüberstehenden Antagonismen: Kommunismus und Kapitalismus, Repression und freiheitliche Demokratie, militärische Bedrohung und vergnügte Freizeitgestaltung. Sie alle geben Auskunft über eine tief gespaltenen Weltordnordnung im großen und die inneren Konflikte der westlichen Demokratien im kleinen. Gesellschaftlicher Wandel, so scheinen Bilder und Interpretationen des Autors nahe zu legen, offenbarte sich in den 60er Jahre eben nicht als allseits akzeptierte Erneuerung, sondern war vielmehr stets begleitet von der spannungsgeladenen Auseinandersetzung zwischen mehreren Alternativen.

Auf die Bilder des fortschreitenden Wirtschaftsaufschwungs, die am Anfang des Kapitels „Wirtschaft. Der große Boom und erste Krisen“ stehen, folgen Szenen des einsetzenden Zechensterbens, Vorboten und zugleich Ausdruck der Ende der 1960er Jahre einsetzenden Rezession der bundesrepublikanischen Wirtschaft. Auch wenn sich diese im Nachhinein nur als kleinere Wachstumsdelle entpuppte, zeugen etwa die 10.000 Menschen, die 1967 in Oberhausen gegen Zechenschließungen demonstrierten, von der kollektiven Angst einer ganzen Berufsgruppe vor dem persönlichen wirtschaftlichen Abstieg (S.89). Eine wahrhaft ubiquitäre Sammlung von Bildern präsentiert das abschließende Kapitel „Gesellschaft und Kultur im Umbruch“. Neben den bekannten Ikonen des gesellschaftlich-kulturellen Wandels wie den Beatles (S.116), dem Woodstockfestival von 1969 (S.118) stehen das nicht minder berühmte Wembleytor von 1966 (S.122) oder der weltweit beachtete Eichmannprozesses in Jerusalem von 1962 (S.129).

Mit dem zweiten Band seiner Bildergeschichte der Bundesrepublik präsentiert Edgar Wolfrum somit eine ebenso informative wie unterhaltsame Zusammenstellung von Pressefotografien. Auch das durchgehende Deutungsmuster des dynamisch-nervösen Wandels kann zweifelsohne überzeugen. Eine generelle Frage, die sich an eine mit Bildern arbeitende Geschichtsschreibung richtet, muss jedoch auch hier gestellt werden: Was kann eine Visual History leisten, was eine traditionelle Historiographie nicht leisten kann? Wo unterschieden sich die Deutungen, die die Bilder nahe legen, von den Interpretationen, die sich dem Historiker aus den traditionellen schriftlichen Quellen erschließen? Wolfrums Zusammenschau, so gilt es zu konstatieren, unterstreicht zumeist die Deutungen, die der Autor bereits in seiner viel beachteten Gesamtstudie zur bundesrepublikanischen Geschichte vorgestellt hat (Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006). Somit bleibt zu hinterfragen, ob die Bilder nicht doch nur der Illustration der durch eine traditionelle Geschichtsschreibung gewonnenen Einsichten dienen.

(1) Habbo Knoch: "Renaissance der Bildanalyse in der Neuen Kulturgeschichte", in: Historisches Forum 5 (2005), S. 49 - 62.

geschrieben am 09.11.2007 | 654 Wörter | 4481 Zeichen

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