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Berliner Kindheit um neunzehnhundert


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Rezension von

Daniel Bigalke

Berliner Kindheit um neunzehnhundert Der Titel dieses Buches hätte nicht „Berliner Kindheit um 1900“ lauten sollen, sondern vielmehr „Lyrisch-philosophische Betrachtungen zu einer Berliner Kindheit um 1900“, denn dieses Buch, Walter Benjamins Kindheitsbuch, ist eine sehr feinfühlige autobiographische Schrift, die sich als Schlüsseltext der Moderne durch eine enorm lyrisch-philosophische Sprache auszeichnet. Es geht darin eigentlich um tiefgehendere philosophische Fragen und Reflexionen, als es der Titel verheißt. Das Gesetz des Ortes spielt eine Rolle, denn Benjamins eigene Identitätskrise scheint die treibende Kraft hinter den vorliegenden Prosaminiaturen zu sein. Und in der Tat: Wer Benjamins andere Schriften kennt weiß, daß es ihm stets um eine Verortung seines Geistes als deutsch, französisch, jüdisch, kommunistisch oder spezifischer - wie hier - als „berlinerisch“ ging. Damit ist das vorliegende Buch zugleich Ausdruck der Tragik dieses Ringens um Identität, denn es ist getränkt vom Gefühl der Sehnsucht und der Erkenntnis von der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen – Gefühle, deren philosophische Einordnung infolge konsequenter Selbstreflexion kaum jemand anders hätte besser ausdrücken können, als der von Zerrissenheit gepeinigte Benjamin auf der Suche nach seinem ihm gemäßen Ort in der Welt. „Walter Benjamin hat, anders als die Protagonisten der Frankfurter Schule, sein ganzes Leben hindurch gegen die entortende Strömung angekämpft, von der er sich ergriffen fühlte.“ (Hans-Dietrich Sander, Die Auflösung aller Dinge, Zur geschichtlichen Lage des Judentums in der Moderne, München, 1988, S. 66) In diesem Buch beschreibt Benjamin seine Kindheit im Berlin der Jahrhundertwende. Sein treibendes Motiv ist deshalb die dezidierte Verortung seiner selbst. Es sind ästhetische Erinnerungen an eine Großstadt-Kindheit in wohlhabendem, jüdisch-bürgerlichem Milieu - zugleich geprägt von einer subtilen Trauer. Wir können deshalb mit Recht von einer ästhetischen Tragik sprechen. Der Leser erhält intime Einblicke in das Schlafzimmer eines kranken Kindes oder Bilder von Odysseen durch Berliner Gärten und Parks. Zu Recht gilt diese Sammlung von Momentaufnahmen aus der Kindheit im Kaiserreich – freilich auch neben Oswald Spenglers erstmals herausgegebenen autobiographischen Kindheits-Rückblenden derselben Zeit unter dem Titel „Eis heauton“ (Lilienfeld Verlag, 2007) - als eine der eindrücklichsten deutschsprachigen Autobiografien. Herausgegeben wurde der vorliegende Band von Rolf Tiedemann. Benjamin hat von 1932 bis 1938 an der „Berliner Kindheit“ gearbeitet, aber keine der vielen Fassungen lag für eine erste Buchausgabe vor, die Theodor W. Adorno 1950 nur aus verschiedenen Manuskripten, Typoskripten und Teilabdrucken zusammenstellte. Erst 1981 wurde in der Bibliotheque Nationale in Paris ein Typoskript der 1938 entstandenen Fassung letzter Hand wiedergefunden, die Benjamin dort durch Georges Bataille verstecken ließ. Benjamins hier vorliegende Kindheits-Trümmer aus der Vogelperspektive sind das Ergebnis der Verwendung dieses ersten direkten Typoskripts letzter Hand mit Benjamins selbst vorgesehener Vorgabe der Anordnung der einzelnen Prosa-Erinnerungsstücke. In diesem Band sind sie in dieser originären Fassung das allererste Mal publiziert. Es lassen sich damit erstmals – aufgrund der heute endlich vorliegenden Ausgaben Benjamins und Spenglers – Parallelen zwischen beiden ziehen. Was in Oswald Spenglers autobiographischem Rückblick die Angst und der Ekel war, ist bei Benjamin die Sehnsucht nach der Geborgenheit. Und so scheint die Autobiographie eines Philosophen mit seinen subjektiven emotionalen Zuständen immer auch der Spiegel des Werkes dieses Philosophen zu sein. Man findet nämlich Versatzstücke der Spengler-Autobiographie ebenso in seinem Werk „Der Untergang“ (1917) wieder, wie man Benjamins autobiographische Motive in seinen Schriften “Aura und Reflexion“ oder „Das Kunstwerk“ (1936) erkennt. Autobiographien dienen damit als Schlüssel zum Werk selbst. So auch die „Berliner Kindheit“ Benjamins, dessen, Motive sich nunmehr recht schnell darbieten: Ferne Welten waren ihm fremd, heimatliche Bilder nicht. Diese Bilder waren das Objekt seiner Sehnsucht und scheinen dem Buch überhaupt erst den Titel gegeben zu haben. „Es kam vor, daß die Sehnsucht, die sie erweckten, nicht in das Unbekannte, sondern nach Hause rief.“ (15) Verbunden mit der „Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte“ (30) und „untröstliche[m] Schmerz“ (47) spricht hier eine sensible Persönlichkeit über sich und ihre Stadt – und zwar in bisher auch für viele andere Dichter und Philosophen ergreifenden Worten. So etwa für den Dichter Rolf Schilling: „Benjamin, ‚Berliner Kindheit um 1900’ – ich war angetan, ohne doch den Eindruck des Prätentiösen, des nicht aus innerem Zwang, sondern aus secundären Gründen Geschriebenen ganz zu verlieren. Verwandtschaft mit Jünger, auch in den Schwächen, nun, es ist eine Generation, eine Welt. Dies wird uns heute deutlicher als es ihnen selber um 1930 war. -“ (Rolf Schilling, Refugium. Erstes Buch, München, 1995, S. 42) Und wahrlich, Benjamin als Vertreter seiner Generation hatte seine Gründe, in seinem Buch von der Geborgenheit in elterlicher und großmütterlicher Wohnung (50) oder von seinen Träumen, mit denen er sich „Geborgenheit erkaufte“(51), zu schreiben. Er erinnert sich damit an seine eigene und längst vergangene Welt. Geradezu amüsant ist zu lesen, daß er z.B. als Kind hörte, wie die Leute seine Mutter mit „Nähfrau“ ansprachen, was sich später als „gnädige Frau“ (71) im Gehör des Kindes korrigierte. Dennoch hielt Benjamin, wie er schreibt, im Worte „Nähfrau“ die Machtvollkommenheit der Mutter als eindeutiger bekundet. Eine der philosophischen Urfragen als einzig übrige Frage zur Welt stellte er sich bereits in der Kindheit: „Warum denn etwas auf der Welt, warum die Welt sei?“ (75) – Ihr Nichtsein schien für Benjamin keinen Deut fragwürdiger, dennoch ergriff ihn die Verlassenheit angesichts dieser Frage – eine Urfrage an den Menschen, an den potentiellen Philosophen, die sich demselben zumeist schon in seiner Kindheit stellt. Bei Benjamin war dies so, und es ist erfreulich, solche und viele weitere Details seines Denkens jetzt ergründen zu können. Das vorliegende autobiographische Buch legt Zeugnis von der Gewalt des Schmerzes ab. Es zeigt die Ideenwelt und die emotionale Anatomie eines Kindes auf, das schon recht früh trotz wohlhabendem Elternhaus in Schule, Familie und Beruf sehr einsam war und sich zeitlebens auf der Suche nach einem Hort der Ruhe, der Sicherheit und der heimatlichen Geborgenheit befand.

Der Titel dieses Buches hätte nicht „Berliner Kindheit um 1900“ lauten sollen, sondern vielmehr „Lyrisch-philosophische Betrachtungen zu einer Berliner Kindheit um 1900“, denn dieses Buch, Walter Benjamins Kindheitsbuch, ist eine sehr feinfühlige autobiographische Schrift, die sich als Schlüsseltext der Moderne durch eine enorm lyrisch-philosophische Sprache auszeichnet. Es geht darin eigentlich um tiefgehendere philosophische Fragen und Reflexionen, als es der Titel verheißt. Das Gesetz des Ortes spielt eine Rolle, denn Benjamins eigene Identitätskrise scheint die treibende Kraft hinter den vorliegenden Prosaminiaturen zu sein.

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Und in der Tat: Wer Benjamins andere Schriften kennt weiß, daß es ihm stets um eine Verortung seines Geistes als deutsch, französisch, jüdisch, kommunistisch oder spezifischer - wie hier - als „berlinerisch“ ging. Damit ist das vorliegende Buch zugleich Ausdruck der Tragik dieses Ringens um Identität, denn es ist getränkt vom Gefühl der Sehnsucht und der Erkenntnis von der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen – Gefühle, deren philosophische Einordnung infolge konsequenter Selbstreflexion kaum jemand anders hätte besser ausdrücken können, als der von Zerrissenheit gepeinigte Benjamin auf der Suche nach seinem ihm gemäßen Ort in der Welt.

„Walter Benjamin hat, anders als die Protagonisten der Frankfurter Schule, sein ganzes Leben hindurch gegen die entortende Strömung angekämpft, von der er sich ergriffen fühlte.“ (Hans-Dietrich Sander, Die Auflösung aller Dinge, Zur geschichtlichen Lage des Judentums in der Moderne, München, 1988, S. 66) In diesem Buch beschreibt Benjamin seine Kindheit im Berlin der Jahrhundertwende. Sein treibendes Motiv ist deshalb die dezidierte Verortung seiner selbst. Es sind ästhetische Erinnerungen an eine Großstadt-Kindheit in wohlhabendem, jüdisch-bürgerlichem Milieu - zugleich geprägt von einer subtilen Trauer. Wir können deshalb mit Recht von einer ästhetischen Tragik sprechen. Der Leser erhält intime Einblicke in das Schlafzimmer eines kranken Kindes oder Bilder von Odysseen durch Berliner Gärten und Parks. Zu Recht gilt diese Sammlung von Momentaufnahmen aus der Kindheit im Kaiserreich – freilich auch neben Oswald Spenglers erstmals herausgegebenen autobiographischen Kindheits-Rückblenden derselben Zeit unter dem Titel „Eis heauton“ (Lilienfeld Verlag, 2007) - als eine der eindrücklichsten deutschsprachigen Autobiografien.

Herausgegeben wurde der vorliegende Band von Rolf Tiedemann. Benjamin hat von 1932 bis 1938 an der „Berliner Kindheit“ gearbeitet, aber keine der vielen Fassungen lag für eine erste Buchausgabe vor, die Theodor W. Adorno 1950 nur aus verschiedenen Manuskripten, Typoskripten und Teilabdrucken zusammenstellte. Erst 1981 wurde in der Bibliotheque Nationale in Paris ein Typoskript der 1938 entstandenen Fassung letzter Hand wiedergefunden, die Benjamin dort durch Georges Bataille verstecken ließ. Benjamins hier vorliegende Kindheits-Trümmer aus der Vogelperspektive sind das Ergebnis der Verwendung dieses ersten direkten Typoskripts letzter Hand mit Benjamins selbst vorgesehener Vorgabe der Anordnung der einzelnen Prosa-Erinnerungsstücke. In diesem Band sind sie in dieser originären Fassung das allererste Mal publiziert.

Es lassen sich damit erstmals – aufgrund der heute endlich vorliegenden Ausgaben Benjamins und Spenglers – Parallelen zwischen beiden ziehen. Was in Oswald Spenglers autobiographischem Rückblick die Angst und der Ekel war, ist bei Benjamin die Sehnsucht nach der Geborgenheit. Und so scheint die Autobiographie eines Philosophen mit seinen subjektiven emotionalen Zuständen immer auch der Spiegel des Werkes dieses Philosophen zu sein. Man findet nämlich Versatzstücke der Spengler-Autobiographie ebenso in seinem Werk „Der Untergang“ (1917) wieder, wie man Benjamins autobiographische Motive in seinen Schriften “Aura und Reflexion“ oder „Das Kunstwerk“ (1936) erkennt.

Autobiographien dienen damit als Schlüssel zum Werk selbst. So auch die „Berliner Kindheit“ Benjamins, dessen, Motive sich nunmehr recht schnell darbieten: Ferne Welten waren ihm fremd, heimatliche Bilder nicht. Diese Bilder waren das Objekt seiner Sehnsucht und scheinen dem Buch überhaupt erst den Titel gegeben zu haben. „Es kam vor, daß die Sehnsucht, die sie erweckten, nicht in das Unbekannte, sondern nach Hause rief.“ (15) Verbunden mit der „Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt hatte“ (30) und „untröstliche[m] Schmerz“ (47) spricht hier eine sensible Persönlichkeit über sich und ihre Stadt – und zwar in bisher auch für viele andere Dichter und Philosophen ergreifenden Worten. So etwa für den Dichter Rolf Schilling: „Benjamin, ‚Berliner Kindheit um 1900’ – ich war angetan, ohne doch den Eindruck des Prätentiösen, des nicht aus innerem Zwang, sondern aus secundären Gründen Geschriebenen ganz zu verlieren. Verwandtschaft mit Jünger, auch in den Schwächen, nun, es ist eine Generation, eine Welt. Dies wird uns heute deutlicher als es ihnen selber um 1930 war. -“ (Rolf Schilling, Refugium. Erstes Buch, München, 1995, S. 42)

Und wahrlich, Benjamin als Vertreter seiner Generation hatte seine Gründe, in seinem Buch von der Geborgenheit in elterlicher und großmütterlicher Wohnung (50) oder von seinen Träumen, mit denen er sich „Geborgenheit erkaufte“(51), zu schreiben. Er erinnert sich damit an seine eigene und längst vergangene Welt. Geradezu amüsant ist zu lesen, daß er z.B. als Kind hörte, wie die Leute seine Mutter mit „Nähfrau“ ansprachen, was sich später als „gnädige Frau“ (71) im Gehör des Kindes korrigierte. Dennoch hielt Benjamin, wie er schreibt, im Worte „Nähfrau“ die Machtvollkommenheit der Mutter als eindeutiger bekundet. Eine der philosophischen Urfragen als einzig übrige Frage zur Welt stellte er sich bereits in der Kindheit: „Warum denn etwas auf der Welt, warum die Welt sei?“ (75) – Ihr Nichtsein schien für Benjamin keinen Deut fragwürdiger, dennoch ergriff ihn die Verlassenheit angesichts dieser Frage – eine Urfrage an den Menschen, an den potentiellen Philosophen, die sich demselben zumeist schon in seiner Kindheit stellt. Bei Benjamin war dies so, und es ist erfreulich, solche und viele weitere Details seines Denkens jetzt ergründen zu können.

Das vorliegende autobiographische Buch legt Zeugnis von der Gewalt des Schmerzes ab. Es zeigt die Ideenwelt und die emotionale Anatomie eines Kindes auf, das schon recht früh trotz wohlhabendem Elternhaus in Schule, Familie und Beruf sehr einsam war und sich zeitlebens auf der Suche nach einem Hort der Ruhe, der Sicherheit und der heimatlichen Geborgenheit befand.

geschrieben am 04.01.2008 | 936 Wörter | 5667 Zeichen

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