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Albert Südekum (1871-1944)


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Rezension von

Jan Robert Weber

Albert Südekum (1871-1944) Vor kurzem hat die „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ eine bemerkenswerte Biographie aus der Feder des Historikers Max Bloch im renommierten Droste-Verlag erscheinen lassen: „Albert Südekum. Ein deutscher Sozialdemokrat zwischen Kaiserreich und Diktatur (1871-1944)“. Blochs Werk ruft einen bedeutenden Sozialdemokraten ins geschichtliche Bewusstsein zurück, der bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von seiner eigenen Partei systematisch aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen worden war, so dass er bald nur noch einem kleinen Kreis von Fachleuten ein Begriff blieb. Dieser Begriff ist kein schmeichelhafter, handelt es sich doch um den der „Südekumerei“, was nichts anderes als „Sozialchauvinismus“ bedeuten soll. Anders gesprochen: Südekum personifizierte bislang den vermeintlichen Verrat der SPD an der Arbeiterklasse, den die Partei vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Politik des „Burgfriedens“, der interfraktionellen Verständigung sowie mit der Übernahme der Regierungsverantwortung nach der Kriegsniederlage 1918 begangen habe. Tatsächlich war Südekum ein ‚rechter’, d. h. ein ebenso patriotischer wie pragmatischer Sozialdemokrat – und so bietet seine Lebensbeschreibung auch ein historisches Lehrstück für die Flügelkämpfe der ältesten deutschen Volkspartei, die bekanntlich bis heute nicht ausbleiben, und seit jeher zwischen Programmatikern und Pragmatikern ausgefochten werden. Die hessische SPD hat darüber ja gerade erst ein neues Kapitel in ihr Parteigeschichtsbuch schreiben müssen. Um sensationelle Enthüllungen, wie sie unlängst der FAZ-Journalist Volker Zastrow („Die Vier“) über die Abtrünnigen in der Hessen-SPD veröffentlicht hat, geht es dem Historiker Max Bloch bei seiner Biographie natürlich nicht. Seriös, nüchtern und souverän hält er Distanz zu seinem Forschungsgegenstand, den er auf der Grundlage breiter und intensiver Archivrecherchen ausbreitet. So kann er anschaulich von der spannungsreichen, zeitweise erfolgreichen, aber letztlich gescheiterten Karriere eines bürgerlichen Sozialdemokraten erzählen, der das tragische Geschick der sozialdemokratischen Politikergeneration zwischen 1895 und 1933 in geradezu beispielhafter Weise verkörpert. Blochs erstes Kapitel berichtet vom Aufstieg des Bürgers Südekum in der Vorkriegs-SPD. Den Lehrjahren als Student der Staatswissenschaften bei Georg von Vollmar und Ferdinand Tönnies folgten die Wanderjahre als Journalist diverser Parteiorgane in Leipzig, Nürnberg und Dresden. Herkunft, Studienzeit und erste politische Erfahrungen ließen Südekum zu der Überzeugung kommen, dass die Sozialdemokratie die legitime Erbin des liberalen, freiheitlichen Gedankens wäre, zumal sich der parteipolitische Liberalismus spätestens seit Bismarcks Entlassung im steten Sinkflug befand, während die SPD (allen Sozialistengesetzen trotzend) einen unaufhaltsamen Aufschwung erfuhr, der die Partei schließlich dazu befähigte, die stärkste Fraktion im Reichstag zu stellen. Der SPD-Reichstagsfraktion gehörte Südekum von 1900 bis 1918 an, erstmals im zarten Alter von 29 Jahren. Seine dortige Jungfernrede drehte sich, neben einer konstruktiven Absage an die Wilhelminische Außenpolitik, um die „soziale Malaise“, also um die Spaltung der Nation in Arm und Reich, die er durch Kanzler von Bülows Politik verschärft sah. Diese erste Reichstagsrede enthielt bereits die Leitlinien Südekum’schen Handelns und Denkens in den folgenden 18 Jahren: die Versöhnung der in Klassen zersplitterten Nation zu einer „Volksgemeinschaft“ infolge einer pragmatisch beförderten Entwicklung nach innen sowie das maßvoll-selbstbewusste Geltendmachen der nationalen Interessen einer Großmacht Europas nach außen. Rosa Luxemburg zeigte sich ob dieser Rede „empört“ und nannte Südekum gegenüber Clara Zetkin schlicht einen „Strohkopf“. Dass der eifernden Sozialistin der Kurs ihres nüchternen Parteigenossen missfiel, ergibt sich aus der Tatsache, dass Südekum als „patriotischer Genosse“ auftrat, der im Zweifelsfall das Allgemeinwohl über das Parteiwohl zu stellen bereit war. Südekum blieb der Parteilinken ein Stein des Anstoßes, obwohl oder besser: gerade weil er sich als Haushaltspolitiker nicht nur innerhalb der SPD, sondern auch bei der parteipolitischen Konkurrenz einen Namen machte. Bis 1912 hatte er sich als festes Mitglied des parlamentarischen Führungszirkels etabliert. Seine große Stunde schlug dann mit dem verhängnisvollen Kriegsbeginn 1914: Zusammen mit Otto Wels, Eduard David und Philipp Scheidemann gelang es Südekum, die Fraktion von der Notwendigkeit der Kriegskreditbewilligung zu überzeugen und damit auch die große Mehrheit der deutschen Arbeiter auf den kaiserlichen Kurs der nationalen Einheitsfront einzuschwören. „Die Politik der sozialdemokratischen Partei beim Kriegsausbruch ist in Zehlendorf im Südekum\'schen Hause gemacht worden.“ Es nimmt kaum wunder, dass Südekum nun erst recht als „Sozialist des Kaisers“ galt, der eine kriecherische „Apologie der Regierungspolitik“ betreibe, wie Karl Liebknecht über die „Südekumerei“ angewidert urteilte. Südekum selbst sah hingegen im verwirklichten „Burgfrieden“ die wahre Geburtsstunde der Nation, schien ihm doch damit die unerschütterliche Grundlage für eine weiter gehende Demokratisierung des Deutschen Reichs geschaffen worden zu sein. Die im August 1914 sowie in den Folgejahren unter Beweis gestellte Loyalität der Arbeiterbewegung und ihrer politischen Führung gegenüber Staat und Nation müsste, so kalkulierte Südekum, früher oder später zu umfassenden Reformen in der Reichsverfassung führen. Bloch macht in seinem zweiten Kapitel, das Südekums einflussreiches Wirken während der vier Weltkriegsjahre schildert, deutlich, dass dieses Kalkül nicht aufging. Jedenfalls nicht so, wie Südekum und seine Mitstreiter es sich gewünscht hatten. Zwar versuchte Südekum darauf hinzuwirken, dass das Reich den Krieg mit einem „ehrenvollen Frieden“ beendete und im Innern den fälligen Demokratisierungsprozess einleitete. Doch beharrliche Widerstände von allen Seiten verhinderten einen nachhaltigen Erfolg. Je länger der Krieg dauerte und je mehr die Hoffnungen auf einen deutschen Sieg schwanden, desto stärker wurde der Südekum’sche Kurs von Alldeutschen und radikalen Sozialisten in Frage gestellt und bekämpft. Schwerer wog allerdings, dass Regierung, OHL und Kaiser reformunwillig blieben und es den loyalen Reformsozialisten um Südekum unmöglich machten, die kriegsmüde Arbeiterschaft von der Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zu überzeugen und bei der Stange zu halten. Und auch die Idee eines Verständigungsfriedens wurde von Regierungsseite immer wieder durchkreuzt. So desavouierte Reichskanzler Michaelis 1917 die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit und konterkarierte damit die Arbeit des Interfraktionellen Ausschusses, der unter Südekums maßgeblichen Einfluss kurz zuvor gebildet worden war. Noch symbolträchtiger für die letztlich scheiternden Bemühungen Südekums nimmt sich die Kaiseraudienz aus, die der sozialdemokratische Patriot (der als einziger in Leutnantsuniform mit Helm und Eisernem Kreuz erschien) nutzen wollte, um den Monarchen von der Politik des Interfraktionellen Ausschusses zu überzeugen. Vergeblich: Das Gespräch mit dem Kaiser erschöpfte sich in Oberflächlichkeiten, so dass Südekum zur Überzeugung kam, dass sich Wilhelm II. „über die Grundlage unserer damaligen Situation vollkommen im Irrtum befand“. Als kurz vor Kriegsende die konstitutionelle in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt wurde, war Südekums Reformpolitik bereits gescheitert: Kriegsniederlage und Novemberrevolution schufen mit Versailler Vertrag und Republik völlig neue Verhältnisse – und bedeuteten auch das Ende von Südekums parlamentarischer Karriere. „Südekum […] kämpfte angesichts der fortschreitenden Radikalisierung der deutschen Arbeiterschaft auf verlorenem Prosten, und der Verlust des Reichstagsmandats im Dezember 1918 war der Preis, den er für seinen unpopulären Patriotismus zu entrichten hatte“, resümiert Bloch und stellt fest, dass Südekum damit zum „Bauernopfer des Parteivorstands“ geworden war. Dennoch wollte die Partei während der ersten Bürgerkriegsjahre auf seine Dienste keineswegs verzichten, wie Bloch im dritten und abschließenden Kapitel „Höhepunkt und Ende eines politischen Lebens“ verdeutlicht. Noch im November 1918 wurde Südekum preußischer Finanzminister. Und als solcher wirkte er als staatsloyaler Sozialdemokrat zusammen mit Noske, Wels, Göhre und Ebert darauf hin, eine Revolution nach russischem Vorbild in Deutschland, und das hieß: einen Bürgerkrieg zu verhindern. Dass er damit abermals undankbare Aufgaben übernahm, die seinem Ruf als Rechtssozialist und Vernunftmonarchist Vorschub leisteten, liegt auf der Hand. Eine dieser unpopulären Aufgaben war die Verstaatlichung des kaiserlich-königlichen Vermögens, in deren Folge es zu den so genannten Weihnachtskämpfen mit den revolutionären Volksmarinedivisionen um das Berliner Stadtschloss kam. Aber auch sonst führte die staatssozialistische Überzeugung, wirtschaftspolitisch einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus einzuschlagen, Südekum immer wieder in „schreienden Gegensatz zu den Forderungen seiner Partei“. Nachdem ihn schon seine Steuerpolitik von Führung und Basis isoliert hatte, resultierten seine Pläne, das Haus Hohenzollern mit 100 Millionen Reichsmark wegen der Verstaatlichung sämtlicher Liegenschaften und Vermögen abzufinden, in der ersten Krise der jungen preußischen Regierung, die als „Südekumkrise“ in die Annalen eingegangen ist. Der verleumdete Finanzminister verstand den gesamten Vorgang schlicht als einen „Akt der Gerechtigkeit“, aber selbst für seine ehemaligen Parteifreunde war diese Politik angesichts bevorstehender Wahlen nichts Geringeres als eine Katastrophe. Massenproteste gegen die preußische Regierung folgten, und auch die Fraktion im preußischen Landtag ließ ihren Minister bei der Abstimmung über den Abfindungsvertrag im Stich. Die gütliche Regelung zwischen Staat und Königshaus war damit gescheitert, so dass der preußische Staat in den folgenden Jahren „eine ebenso teure wie aufwendige Klagewelle über sich ergehen lassen musste, die dem Königshaus seine Vermögenswerte Stück für Stück zurückerstattete“. Südekums Vergleichsentwurf im Rahmen der gültigen Gesetze wäre, so Bloch, die klügere Lösung gewesen; sie wurde von der eigenen Partei verhindert, die sich von den Forderungen der Radikalen nach entschädigungsloser Enteignung zu fruchtlosen Protesten antreiben ließ. Südekums endgültigen „Abschied von der Macht“ zeitigte aber erst der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Nicht etwa, weil Südekum seine Rolle als preußischer Minister währenddessen vernachlässigt hätte. Im Gegenteil: Nachdem er in den entscheidenden Tagen mit Glück und Geschick gegen die Putschisten operiert hatte, fiel Südekum im Nachhinein den Ränken seiner Partei zum Opfer, nämlich während des Kuhhandels von MSPD, Zentrum und DDP um die neu zu verteilenden Ministerposten, den die Regierungsumbildung nach dem Scheitern des Putsches mit sich brachte. Zusammen mit den Staatsministern Heine und Hirsch wurde Südekum 1920 als „Sündenbock in die Wüste geschickt“ – und konnte das folgende „Schicksal der politischen Vereinsamung“, wie so viele andere Sozialdemokraten seiner Generation, nicht mehr wenden. Von 1920 bis 1923 noch als Staatskommissar für die Groß-Hamburg-Frage und im Ruhrkampf aktiv, dann bis 1933 im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaften für Medizinische Produkte und der Deutschen Zündhölzer als Lobbyist tätig, verschärfte sich Südekums Isolation nach der Machtübertragung an Hitler. Resigniert musste er die Jahre der Diktatur als nicht immer unbehelligter Privatmann an sich vorüberziehen lassen. Erst an seinem Lebensabend engagierte sich der mittlerweile 70-jährige noch einmal für seine Nation, als „Netzwerker der Anti-Hitler-Opposition“. Das missglückte Attentat auf Hitler und die darauf folgende Verfolgungswelle, das Ende der NS-Diktatur sowie den Untergang des Reiches erlebte Südekum nicht mehr. Er verstarb im Frühjahr 1944 als einer der letzten Vertreter der „Generation Ebert“. Nach der Lektüre von Max Blochs überaus quellengesättigter und sorgfältig gearbeiteter Studie füllt sich das abschätzige Wort von der „Südekumerei“ mit neuem Inhalt. Südekums politische Misserfolge zwischen 1916 und 1918, sein Sturz 1920 markieren das „Scheitern des sozialdemokratischen Reformismus“. Das Programm einer „Volksgemeinschaft der Mitte“, das eine „staatspolitisch verantwortliche Koalitionspolitik als Grundvoraussetzung einer gefestigten Demokratie verstand“ und das „der Sozialdemokratie eine Rolle als die staatstragende Partei zuwies“, erscheint aus der Retrospektive als eine verpasste historische Chance. Der Diffamierung Südekums hat Bloch jedenfalls den Boden entzogen. Seine in jeder Hinsicht lesenswerte politische Biographie überzeugt den Leser, Albert Südekum nicht länger als einen „Sozialisten des Kaisers“ gering zu schätzen, sondern als Sozialisten des demokratischen Deutschland zu würdigen.

Vor kurzem hat die „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ eine bemerkenswerte Biographie aus der Feder des Historikers Max Bloch im renommierten Droste-Verlag erscheinen lassen: „Albert Südekum. Ein deutscher Sozialdemokrat zwischen Kaiserreich und Diktatur (1871-1944)“. Blochs Werk ruft einen bedeutenden Sozialdemokraten ins geschichtliche Bewusstsein zurück, der bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von seiner eigenen Partei systematisch aus dem kollektiven Gedächtnis ausgeschlossen worden war, so dass er bald nur noch einem kleinen Kreis von Fachleuten ein Begriff blieb.

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Dieser Begriff ist kein schmeichelhafter, handelt es sich doch um den der „Südekumerei“, was nichts anderes als „Sozialchauvinismus“ bedeuten soll. Anders gesprochen: Südekum personifizierte bislang den vermeintlichen Verrat der SPD an der Arbeiterklasse, den die Partei vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer Politik des „Burgfriedens“, der interfraktionellen Verständigung sowie mit der Übernahme der Regierungsverantwortung nach der Kriegsniederlage 1918 begangen habe. Tatsächlich war Südekum ein ‚rechter’, d. h. ein ebenso patriotischer wie pragmatischer Sozialdemokrat – und so bietet seine Lebensbeschreibung auch ein historisches Lehrstück für die Flügelkämpfe der ältesten deutschen Volkspartei, die bekanntlich bis heute nicht ausbleiben, und seit jeher zwischen Programmatikern und Pragmatikern ausgefochten werden. Die hessische SPD hat darüber ja gerade erst ein neues Kapitel in ihr Parteigeschichtsbuch schreiben müssen.

Um sensationelle Enthüllungen, wie sie unlängst der FAZ-Journalist Volker Zastrow („Die Vier“) über die Abtrünnigen in der Hessen-SPD veröffentlicht hat, geht es dem Historiker Max Bloch bei seiner Biographie natürlich nicht. Seriös, nüchtern und souverän hält er Distanz zu seinem Forschungsgegenstand, den er auf der Grundlage breiter und intensiver Archivrecherchen ausbreitet. So kann er anschaulich von der spannungsreichen, zeitweise erfolgreichen, aber letztlich gescheiterten Karriere eines bürgerlichen Sozialdemokraten erzählen, der das tragische Geschick der sozialdemokratischen Politikergeneration zwischen 1895 und 1933 in geradezu beispielhafter Weise verkörpert.

Blochs erstes Kapitel berichtet vom Aufstieg des Bürgers Südekum in der Vorkriegs-SPD. Den Lehrjahren als Student der Staatswissenschaften bei Georg von Vollmar und Ferdinand Tönnies folgten die Wanderjahre als Journalist diverser Parteiorgane in Leipzig, Nürnberg und Dresden. Herkunft, Studienzeit und erste politische Erfahrungen ließen Südekum zu der Überzeugung kommen, dass die Sozialdemokratie die legitime Erbin des liberalen, freiheitlichen Gedankens wäre, zumal sich der parteipolitische Liberalismus spätestens seit Bismarcks Entlassung im steten Sinkflug befand, während die SPD (allen Sozialistengesetzen trotzend) einen unaufhaltsamen Aufschwung erfuhr, der die Partei schließlich dazu befähigte, die stärkste Fraktion im Reichstag zu stellen. Der SPD-Reichstagsfraktion gehörte Südekum von 1900 bis 1918 an, erstmals im zarten Alter von 29 Jahren. Seine dortige Jungfernrede drehte sich, neben einer konstruktiven Absage an die Wilhelminische Außenpolitik, um die „soziale Malaise“, also um die Spaltung der Nation in Arm und Reich, die er durch Kanzler von Bülows Politik verschärft sah. Diese erste Reichstagsrede enthielt bereits die Leitlinien Südekum’schen Handelns und Denkens in den folgenden 18 Jahren: die Versöhnung der in Klassen zersplitterten Nation zu einer „Volksgemeinschaft“ infolge einer pragmatisch beförderten Entwicklung nach innen sowie das maßvoll-selbstbewusste Geltendmachen der nationalen Interessen einer Großmacht Europas nach außen. Rosa Luxemburg zeigte sich ob dieser Rede „empört“ und nannte Südekum gegenüber Clara Zetkin schlicht einen „Strohkopf“. Dass der eifernden Sozialistin der Kurs ihres nüchternen Parteigenossen missfiel, ergibt sich aus der Tatsache, dass Südekum als „patriotischer Genosse“ auftrat, der im Zweifelsfall das Allgemeinwohl über das Parteiwohl zu stellen bereit war.

Südekum blieb der Parteilinken ein Stein des Anstoßes, obwohl oder besser: gerade weil er sich als Haushaltspolitiker nicht nur innerhalb der SPD, sondern auch bei der parteipolitischen Konkurrenz einen Namen machte. Bis 1912 hatte er sich als festes Mitglied des parlamentarischen Führungszirkels etabliert. Seine große Stunde schlug dann mit dem verhängnisvollen Kriegsbeginn 1914: Zusammen mit Otto Wels, Eduard David und Philipp Scheidemann gelang es Südekum, die Fraktion von der Notwendigkeit der Kriegskreditbewilligung zu überzeugen und damit auch die große Mehrheit der deutschen Arbeiter auf den kaiserlichen Kurs der nationalen Einheitsfront einzuschwören. „Die Politik der sozialdemokratischen Partei beim Kriegsausbruch ist in Zehlendorf im Südekum\'schen Hause gemacht worden.“

Es nimmt kaum wunder, dass Südekum nun erst recht als „Sozialist des Kaisers“ galt, der eine kriecherische „Apologie der Regierungspolitik“ betreibe, wie Karl Liebknecht über die „Südekumerei“ angewidert urteilte. Südekum selbst sah hingegen im verwirklichten „Burgfrieden“ die wahre Geburtsstunde der Nation, schien ihm doch damit die unerschütterliche Grundlage für eine weiter gehende Demokratisierung des Deutschen Reichs geschaffen worden zu sein. Die im August 1914 sowie in den Folgejahren unter Beweis gestellte Loyalität der Arbeiterbewegung und ihrer politischen Führung gegenüber Staat und Nation müsste, so kalkulierte Südekum, früher oder später zu umfassenden Reformen in der Reichsverfassung führen.

Bloch macht in seinem zweiten Kapitel, das Südekums einflussreiches Wirken während der vier Weltkriegsjahre schildert, deutlich, dass dieses Kalkül nicht aufging. Jedenfalls nicht so, wie Südekum und seine Mitstreiter es sich gewünscht hatten. Zwar versuchte Südekum darauf hinzuwirken, dass das Reich den Krieg mit einem „ehrenvollen Frieden“ beendete und im Innern den fälligen Demokratisierungsprozess einleitete. Doch beharrliche Widerstände von allen Seiten verhinderten einen nachhaltigen Erfolg. Je länger der Krieg dauerte und je mehr die Hoffnungen auf einen deutschen Sieg schwanden, desto stärker wurde der Südekum’sche Kurs von Alldeutschen und radikalen Sozialisten in Frage gestellt und bekämpft. Schwerer wog allerdings, dass Regierung, OHL und Kaiser reformunwillig blieben und es den loyalen Reformsozialisten um Südekum unmöglich machten, die kriegsmüde Arbeiterschaft von der Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses zu überzeugen und bei der Stange zu halten. Und auch die Idee eines Verständigungsfriedens wurde von Regierungsseite immer wieder durchkreuzt. So desavouierte Reichskanzler Michaelis 1917 die Friedensresolution der Reichstagsmehrheit und konterkarierte damit die Arbeit des Interfraktionellen Ausschusses, der unter Südekums maßgeblichen Einfluss kurz zuvor gebildet worden war. Noch symbolträchtiger für die letztlich scheiternden Bemühungen Südekums nimmt sich die Kaiseraudienz aus, die der sozialdemokratische Patriot (der als einziger in Leutnantsuniform mit Helm und Eisernem Kreuz erschien) nutzen wollte, um den Monarchen von der Politik des Interfraktionellen Ausschusses zu überzeugen. Vergeblich: Das Gespräch mit dem Kaiser erschöpfte sich in Oberflächlichkeiten, so dass Südekum zur Überzeugung kam, dass sich Wilhelm II. „über die Grundlage unserer damaligen Situation vollkommen im Irrtum befand“.

Als kurz vor Kriegsende die konstitutionelle in eine parlamentarische Monarchie umgewandelt wurde, war Südekums Reformpolitik bereits gescheitert: Kriegsniederlage und Novemberrevolution schufen mit Versailler Vertrag und Republik völlig neue Verhältnisse – und bedeuteten auch das Ende von Südekums parlamentarischer Karriere. „Südekum […] kämpfte angesichts der fortschreitenden Radikalisierung der deutschen Arbeiterschaft auf verlorenem Prosten, und der Verlust des Reichstagsmandats im Dezember 1918 war der Preis, den er für seinen unpopulären Patriotismus zu entrichten hatte“, resümiert Bloch und stellt fest, dass Südekum damit zum „Bauernopfer des Parteivorstands“ geworden war.

Dennoch wollte die Partei während der ersten Bürgerkriegsjahre auf seine Dienste keineswegs verzichten, wie Bloch im dritten und abschließenden Kapitel „Höhepunkt und Ende eines politischen Lebens“ verdeutlicht. Noch im November 1918 wurde Südekum preußischer Finanzminister. Und als solcher wirkte er als staatsloyaler Sozialdemokrat zusammen mit Noske, Wels, Göhre und Ebert darauf hin, eine Revolution nach russischem Vorbild in Deutschland, und das hieß: einen Bürgerkrieg zu verhindern. Dass er damit abermals undankbare Aufgaben übernahm, die seinem Ruf als Rechtssozialist und Vernunftmonarchist Vorschub leisteten, liegt auf der Hand. Eine dieser unpopulären Aufgaben war die Verstaatlichung des kaiserlich-königlichen Vermögens, in deren Folge es zu den so genannten Weihnachtskämpfen mit den revolutionären Volksmarinedivisionen um das Berliner Stadtschloss kam. Aber auch sonst führte die staatssozialistische Überzeugung, wirtschaftspolitisch einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus einzuschlagen, Südekum immer wieder in „schreienden Gegensatz zu den Forderungen seiner Partei“. Nachdem ihn schon seine Steuerpolitik von Führung und Basis isoliert hatte, resultierten seine Pläne, das Haus Hohenzollern mit 100 Millionen Reichsmark wegen der Verstaatlichung sämtlicher Liegenschaften und Vermögen abzufinden, in der ersten Krise der jungen preußischen Regierung, die als „Südekumkrise“ in die Annalen eingegangen ist. Der verleumdete Finanzminister verstand den gesamten Vorgang schlicht als einen „Akt der Gerechtigkeit“, aber selbst für seine ehemaligen Parteifreunde war diese Politik angesichts bevorstehender Wahlen nichts Geringeres als eine Katastrophe. Massenproteste gegen die preußische Regierung folgten, und auch die Fraktion im preußischen Landtag ließ ihren Minister bei der Abstimmung über den Abfindungsvertrag im Stich. Die gütliche Regelung zwischen Staat und Königshaus war damit gescheitert, so dass der preußische Staat in den folgenden Jahren „eine ebenso teure wie aufwendige Klagewelle über sich ergehen lassen musste, die dem Königshaus seine Vermögenswerte Stück für Stück zurückerstattete“. Südekums Vergleichsentwurf im Rahmen der gültigen Gesetze wäre, so Bloch, die klügere Lösung gewesen; sie wurde von der eigenen Partei verhindert, die sich von den Forderungen der Radikalen nach entschädigungsloser Enteignung zu fruchtlosen Protesten antreiben ließ.

Südekums endgültigen „Abschied von der Macht“ zeitigte aber erst der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Nicht etwa, weil Südekum seine Rolle als preußischer Minister währenddessen vernachlässigt hätte. Im Gegenteil: Nachdem er in den entscheidenden Tagen mit Glück und Geschick gegen die Putschisten operiert hatte, fiel Südekum im Nachhinein den Ränken seiner Partei zum Opfer, nämlich während des Kuhhandels von MSPD, Zentrum und DDP um die neu zu verteilenden Ministerposten, den die Regierungsumbildung nach dem Scheitern des Putsches mit sich brachte. Zusammen mit den Staatsministern Heine und Hirsch wurde Südekum 1920 als „Sündenbock in die Wüste geschickt“ – und konnte das folgende „Schicksal der politischen Vereinsamung“, wie so viele andere Sozialdemokraten seiner Generation, nicht mehr wenden. Von 1920 bis 1923 noch als Staatskommissar für die Groß-Hamburg-Frage und im Ruhrkampf aktiv, dann bis 1933 im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaften für Medizinische Produkte und der Deutschen Zündhölzer als Lobbyist tätig, verschärfte sich Südekums Isolation nach der Machtübertragung an Hitler. Resigniert musste er die Jahre der Diktatur als nicht immer unbehelligter Privatmann an sich vorüberziehen lassen. Erst an seinem Lebensabend engagierte sich der mittlerweile 70-jährige noch einmal für seine Nation, als „Netzwerker der Anti-Hitler-Opposition“. Das missglückte Attentat auf Hitler und die darauf folgende Verfolgungswelle, das Ende der NS-Diktatur sowie den Untergang des Reiches erlebte Südekum nicht mehr. Er verstarb im Frühjahr 1944 als einer der letzten Vertreter der „Generation Ebert“.

Nach der Lektüre von Max Blochs überaus quellengesättigter und sorgfältig gearbeiteter Studie füllt sich das abschätzige Wort von der „Südekumerei“ mit neuem Inhalt. Südekums politische Misserfolge zwischen 1916 und 1918, sein Sturz 1920 markieren das „Scheitern des sozialdemokratischen Reformismus“. Das Programm einer „Volksgemeinschaft der Mitte“, das eine „staatspolitisch verantwortliche Koalitionspolitik als Grundvoraussetzung einer gefestigten Demokratie verstand“ und das „der Sozialdemokratie eine Rolle als die staatstragende Partei zuwies“, erscheint aus der Retrospektive als eine verpasste historische Chance. Der Diffamierung Südekums hat Bloch jedenfalls den Boden entzogen. Seine in jeder Hinsicht lesenswerte politische Biographie überzeugt den Leser, Albert Südekum nicht länger als einen „Sozialisten des Kaisers“ gering zu schätzen, sondern als Sozialisten des demokratischen Deutschland zu würdigen.

geschrieben am 04.09.2009 | 1714 Wörter | 11370 Zeichen

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