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Das Ende des Wirtschaftswunders


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Rezension von

Jan Robert Weber

Das Ende des Wirtschaftswunders Günter Grass hat sich unlängst in einem Interview für den Deutschlandfunk (20.08.2010) über die Zukunft des deutschen Sozialstaats mit einer kühnen These besorgt gezeigt: Seit der Wiedervereinigung werde mit dem verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaat neoliberales Schindluder getrieben. Mehr noch: Sämtliche Bundesregierungen hätten seitdem mit einer skrupellosen Sparpolitik den sozialen Frieden in Deutschland aufs Spiel gesetzt. Es ist beileibe nichts Neues, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat in einer Krise steckt. Neu dürfte allerdings die Zeitgeschichtsdeutung des Literaturnobelpreisträgers zu nennen sein, die diese alarmierende Einschätzung trägt, nämlich dass die deutsche Einheit dem Land eine im Kern verfassungswidrige Sozialpolitik beschert hätte. Ist die Einheit tatsächlich der Sündenfall, der zur Vertreibung aus dem Paradies des Wohlfahrtsstaats führen wird? Der Befund von den Grenzen sozialstaatlichen Handelns findet in der Studie „Das Ende des Wirtschaftswunders“ von Gérard Bökenkamp seine historiographische Bestätigung. Auf der Grundlage zahlreicher Quellen erzählt der Berliner Historiker, teils nach Art von Arnulf Barings „Machtwechsel“, teils Traditionen angeslsächsischer Geschichtsschreibung aufnehmend, die von zahlreichen Akteuren, Gruppen und Ereignissen beeinflusste Geschichte, wie und warum sich (West-)Deutschland vom prosperierenden Land der Vollbeschäftigung zum finanziell klammen Versorgungsstaat entwickelt hat. Nach der Lektüre mus man feststellen, dass Grass’ geschichtspolitische These von der Wiedervereinigung als neoliberalem Sündenfall ins Reich der Legende gehört. Von einer Abschaffung des Sozialstaats kann weder davor noch danach die Rede sein. Vielmehr muss konstatiert werden, dass die Sozialpolitik mit der Wiedervereinigung ihren größten Triumph feierte – und die materiellen Grenzen des Versorgungsstaats überschritt. Bereits in den 1970er Jahren wurden Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und die sozialen Sicherungssysteme zu einem permanenten Problem, das die Politik nicht zu lösen vermochte. Während der große reformerische Wurf ein ums andere Mal misslang, obwohl die eigentlich „glückliche Epoche“ einen Reformeifer zeigte wie keine vor ihr, hätten sich, so Bökenkamp, alle Bundesregierungen seither auf den langen „Marsch in die Staatsverschuldung“ (S. 537) gemacht. Von Brandt über Schmidt bis Kohl wurde so eine „Politik der vielen kleinen Kompromisse“ betrieben, die letztlich auf „Kosten der Zukunft“ des Landes ging (S. 537). Bökenkamps Wirtschaftsgeschichte muss man denn auch als Tragödie lesen, als ein Drama in drei Akten. Es beginnt 1969 mit der sozial-liberalen Koalition und ihrem ersten tragischen Helden, Superminister Karl Schiller. Vom keynesianischen Glauben an die Lenkbarkeit der Wirtschaft beseelt und vom Rückenwind einer gewaltigen Konjunktur mit Vollbeschäftigung getragen, gab die Regierung Brandt das Geld zu Umverteilungszwecken mit vollen Händen aus, was dann bereits 1972 zu einer kräftigen Inflation inklusive Staatserschuldung führte, die letztlich nur mit Steuererhöhungen, Etat-Kürzungen und einer Aufwertung der D-Mark einzudämmen gewesen wären. Doch weder Sparkurs noch Geldaufwertung vermochte Schiller gegen seine Partei und Kabinettsmitglieder durchzusetzen, so dass er schließlich seinem Rivalen Helmut Schmidt weichen musste. Es war dann die Bundesbank, welche 1974 die D-Mark vom internationalen Inflationszug abkoppelte, indem sie durch die Freigabe der Wechselkurse zur direkten Geldmengensteuerung mittels Leitzinsfestlegung überging. Zuvor jedoch hatte Schmidt, der dritte Finanzminister der sozial-liberalen Koalition binnen drei Jahren, noch auf das weltwirtschaftliche Krisenjahr 1973 mit einem erneuten Konjunkturprogramm reagiert, so dass sich Inflation und Lohnsteigerungen weiterhin gegenseitig hochschaukelten und der Vollbeschäftigung damit ein ebenso plötzliches wie endgültiges Ende bereiteten. Denn auf die weltweite Rezession und Hochlohnpolitik der Gewerkschaften reagierte die Wirtschaft ihrerseits nicht nur mit Massenentlassungen, sondern auch mit einer gründlichen Rationalisierung, so dass von nun an für Geringqualifizierte kaum noch Chancen auf einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben bestanden. Mitte der 1970er Jahre überstiegen die Arbeitslosenzahlen erstmals die Millionengrenze. Mit der Regierung Schmidt beginnt der zweite Akt des Dramas vom Ende des Wirtschaftwunderlands: Der Kanzler gerierte sich als Weltwirtschaftskrisenmanager, was ihm die Öffentlichkeit damals (wie heute) abnahm. Weder Staatsverschuldung noch Inflation bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Stattdessen setzte er auf milliardenschwere Konjunkturprogramme, die allerdings keinen nachhaltigen Effekt auf dem Arbeitsmarkt zeitigten, worauf der Kanzler mit „finanzpolitischen Scharaden ungeheuren Ausmaßes“ (S. 117), also einer nachhaltigen Sozialstaatsausweitung, reagierte und damit die Staatskassen inklusive die der Sozialversicherungen sprengte. Schon 1975 lag das Haushaltsdefizit im zweistelligen Bereich. Es dauerte dann noch sieben Jahre, bis die sozial-liberale Koalition daran zerbrach. Schmidt hinterließ seinem Nachfolger Kohl derart tiefe Haushaltlöcher, dass dessen erste zehn Regierungsjahre ganz im Zeichen der Konsolidierung stehen mussten. Zugleich musste Schwarz-Gelb auch jene Probleme schultern, die unter Rot-Gelb ungelöst geblieben waren: nämlich das bereits entstandene Prekariat, den Zuzug von Geringqualifizierten aus dem Ausland und den demographischen Wandel, der Anfang der 1970er Jahre begonnen hatte. Trotzdem setzte Kohl mit seinem Finanzminister Stoltenberg bis 1989 eine erfolgreiche Konsolidierung des Bundeshaushalts durch, was allerdings mehr auf die zweistelligen Bundesbankgewinne zurückzuführen ist als auf eine konsequente Sparpolitik. Die nötigen Reformen der Sozialversicherungssysteme unterblieben ebenso wie der Abbau teurer Subventionen. Zudem verpuffte die von großen finanzpolitischen Hilfen vorangetriebene Familienpolitik, mit der die demographische Entwicklung umgedreht werden sollte. Finanzielle Anreize ließen die Bundesbürger nicht kinderreicher werden. Immerhin gelang 1987, was der sozial-liberalen Koalition misslungen war, nämlich eine Steuerreform, die tatsächlich die Entlastung des Bundeshaushalts mit einer Entlastung der Steuerzahler vereinbarte, so dass kurz darauf ein kräftiger Wirtschaftaufschwung einsetzte, der bis auf den mit inzwischen über zwei Millionen Erwerbslosen belasteten Arbeitsmarkt zurückwirkte. „Es war just in dem Augenblick, als die Bundesregierung ab dem Herbst 1989 […] die Früchte ihrer Anstrengungen hätte ernten können, als das […] Unfassbare geschah und die Berliner Mauer fiel“ (S. 533). Mit dem Stichwort des Mauerfalls sind wir am Höhepunkt des Bökenkamp’schen Dramas angelangt. Denn dass die Vereinigung Deutschlands hauptsächlich sozialstaatlich hergestellt wurde, mehr noch: den Triumph der Sozialpolitik über die Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutete, das macht Bökenkamp eindrucksvoll deutlich. Ob Währungsunion, Treuhand oder Stufentarifvertrag – Bundesregierung und Opposition handelten nach sozialpolitischen Prämissen, um den maroden Osten so schnell wie möglich auf Westniveau zu heben. Das war – aus ökonomischer Sicht – zuviel des Guten. Der Umtauschkurs von 1:1, die schnelle Angleichung der ostdeutschen Löhne an das westdeutsche Niveau, ohne dass auch nur ansatzweise eine ähnliche Produktivität bestanden hätte, und schließlich die Übertragung des westdeutschen Sozialstaats ohne Abstriche ließen nicht nur die Arbeitslosenzahlen in der ehemaligen DDR in die Höhe schnellen, sondern zogen auch im Westen Rezession, Rekordarbeitslosigkeit und Rekordverschuldung nach sich. Erst mit dem Bündnis für Arbeit 1993 und einer internationalen Konjunktur konnte die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik wieder stabilisiert werden. Auf die retardierende Handlung einer kurzen wirtschaftlichen Erholungsphase lässt Bökenkamp die politische Katastrophe folgen: Denn der ab 1995 einsetzende Aufschwung blieb bis 1998 ohne Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt, so dass an eine Sanierung der Staatsfinanzen und Sozialsysteme nicht zu denken war. Nachdem Kohl noch kämpferisch das Bündnis für Arbeit mit den Gewerkschaften aufgekündigt und damit die größten bundeseutschen Massendemonstrationen seit dem NATO-Doppelbeschluss provoziert hatte, wurde er abgewählt und hinterließ seinem Nachfolger Schröder höhere Schulden und Arbeitslosenzahlen als je ein Kanzler vor ihm. Es nimmt nach dieser dramatischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung nicht wunder, dass Bökenkamp wiederholt den Mythos von Sisyphos bemüht, um die Arbeit der Bundesregierungen zwischen 1969 und 1998 zu charakterisieren. Fast entsteht der Eindruck, dass die Akteure geradezu zum Scheitern verdammt gewesen seien. Mythisiert Bökenkamp damit unzulässig die Geschichte der bundesdeutschen Finanzpolitik? Immerhin wird dadurch deutlich, wie begrenzt der Einfluss der Bundesregierung auf die wirtschaftliche Entwicklung in einer pluralistischen Gesellschaft (gewesen) ist. Obwohl sich selbst gern als große Gestalterin in Szene setzend, blieb jede Regierung vielfältigsten Einflussnahmen unterworfen. Seien es nun die Länder mittels des Bundesrats, die Bundesbank, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, das Bundesverfassungsgericht, die eigene Partei oder die Wähler: Die vielen unterschiedlichen Erwartungen und sich einander ausschließenden Ansprüche der verschiedenen Interessengruppen drängten die Akteure dazu, im Zweifelsfall opportunistisch zu handeln. Ohne dies direkt auszusprechen, legt Bökenkamp damit freilich den Schluss nahe, dass die staatlich-institutionellen Strukturen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse nicht nur Teil der Lösung sind, sondern auch Teil des Problems. Auf einfache Antworten, wie sie etwa Grass verkündet, muss der Leser dennoch verzichten. Bökenkamps Verdienst ist, dass er die nicht immer gesunden Wurzeln der nach wie vor krisengeschüttelten Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik Deutschlands bloßgelegt hat.

Günter Grass hat sich unlängst in einem Interview für den Deutschlandfunk (20.08.2010) über die Zukunft des deutschen Sozialstaats mit einer kühnen These besorgt gezeigt: Seit der Wiedervereinigung werde mit dem verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaat neoliberales Schindluder getrieben. Mehr noch: Sämtliche Bundesregierungen hätten seitdem mit einer skrupellosen Sparpolitik den sozialen Frieden in Deutschland aufs Spiel gesetzt.

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Es ist beileibe nichts Neues, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat in einer Krise steckt. Neu dürfte allerdings die Zeitgeschichtsdeutung des Literaturnobelpreisträgers zu nennen sein, die diese alarmierende Einschätzung trägt, nämlich dass die deutsche Einheit dem Land eine im Kern verfassungswidrige Sozialpolitik beschert hätte. Ist die Einheit tatsächlich der Sündenfall, der zur Vertreibung aus dem Paradies des Wohlfahrtsstaats führen wird?

Der Befund von den Grenzen sozialstaatlichen Handelns findet in der Studie „Das Ende des Wirtschaftswunders“ von Gérard Bökenkamp seine historiographische Bestätigung. Auf der Grundlage zahlreicher Quellen erzählt der Berliner Historiker, teils nach Art von Arnulf Barings „Machtwechsel“, teils Traditionen angeslsächsischer Geschichtsschreibung aufnehmend, die von zahlreichen Akteuren, Gruppen und Ereignissen beeinflusste Geschichte, wie und warum sich (West-)Deutschland vom prosperierenden Land der Vollbeschäftigung zum finanziell klammen Versorgungsstaat entwickelt hat. Nach der Lektüre mus man feststellen, dass Grass’ geschichtspolitische These von der Wiedervereinigung als neoliberalem Sündenfall ins Reich der Legende gehört. Von einer Abschaffung des Sozialstaats kann weder davor noch danach die Rede sein. Vielmehr muss konstatiert werden, dass die Sozialpolitik mit der Wiedervereinigung ihren größten Triumph feierte – und die materiellen Grenzen des Versorgungsstaats überschritt.

Bereits in den 1970er Jahren wurden Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und die sozialen Sicherungssysteme zu einem permanenten Problem, das die Politik nicht zu lösen vermochte. Während der große reformerische Wurf ein ums andere Mal misslang, obwohl die eigentlich „glückliche Epoche“ einen Reformeifer zeigte wie keine vor ihr, hätten sich, so Bökenkamp, alle Bundesregierungen seither auf den langen „Marsch in die Staatsverschuldung“ (S. 537) gemacht. Von Brandt über Schmidt bis Kohl wurde so eine „Politik der vielen kleinen Kompromisse“ betrieben, die letztlich auf „Kosten der Zukunft“ des Landes ging (S. 537).

Bökenkamps Wirtschaftsgeschichte muss man denn auch als Tragödie lesen, als ein Drama in drei Akten. Es beginnt 1969 mit der sozial-liberalen Koalition und ihrem ersten tragischen Helden, Superminister Karl Schiller. Vom keynesianischen Glauben an die Lenkbarkeit der Wirtschaft beseelt und vom Rückenwind einer gewaltigen Konjunktur mit Vollbeschäftigung getragen, gab die Regierung Brandt das Geld zu Umverteilungszwecken mit vollen Händen aus, was dann bereits 1972 zu einer kräftigen Inflation inklusive Staatserschuldung führte, die letztlich nur mit Steuererhöhungen, Etat-Kürzungen und einer Aufwertung der D-Mark einzudämmen gewesen wären. Doch weder Sparkurs noch Geldaufwertung vermochte Schiller gegen seine Partei und Kabinettsmitglieder durchzusetzen, so dass er schließlich seinem Rivalen Helmut Schmidt weichen musste. Es war dann die Bundesbank, welche 1974 die D-Mark vom internationalen Inflationszug abkoppelte, indem sie durch die Freigabe der Wechselkurse zur direkten Geldmengensteuerung mittels Leitzinsfestlegung überging. Zuvor jedoch hatte Schmidt, der dritte Finanzminister der sozial-liberalen Koalition binnen drei Jahren, noch auf das weltwirtschaftliche Krisenjahr 1973 mit einem erneuten Konjunkturprogramm reagiert, so dass sich Inflation und Lohnsteigerungen weiterhin gegenseitig hochschaukelten und der Vollbeschäftigung damit ein ebenso plötzliches wie endgültiges Ende bereiteten. Denn auf die weltweite Rezession und Hochlohnpolitik der Gewerkschaften reagierte die Wirtschaft ihrerseits nicht nur mit Massenentlassungen, sondern auch mit einer gründlichen Rationalisierung, so dass von nun an für Geringqualifizierte kaum noch Chancen auf einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben bestanden. Mitte der 1970er Jahre überstiegen die Arbeitslosenzahlen erstmals die Millionengrenze.

Mit der Regierung Schmidt beginnt der zweite Akt des Dramas vom Ende des Wirtschaftwunderlands: Der Kanzler gerierte sich als Weltwirtschaftskrisenmanager, was ihm die Öffentlichkeit damals (wie heute) abnahm. Weder Staatsverschuldung noch Inflation bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Stattdessen setzte er auf milliardenschwere Konjunkturprogramme, die allerdings keinen nachhaltigen Effekt auf dem Arbeitsmarkt zeitigten, worauf der Kanzler mit „finanzpolitischen Scharaden ungeheuren Ausmaßes“ (S. 117), also einer nachhaltigen Sozialstaatsausweitung, reagierte und damit die Staatskassen inklusive die der Sozialversicherungen sprengte. Schon 1975 lag das Haushaltsdefizit im zweistelligen Bereich. Es dauerte dann noch sieben Jahre, bis die sozial-liberale Koalition daran zerbrach.

Schmidt hinterließ seinem Nachfolger Kohl derart tiefe Haushaltlöcher, dass dessen erste zehn Regierungsjahre ganz im Zeichen der Konsolidierung stehen mussten. Zugleich musste Schwarz-Gelb auch jene Probleme schultern, die unter Rot-Gelb ungelöst geblieben waren: nämlich das bereits entstandene Prekariat, den Zuzug von Geringqualifizierten aus dem Ausland und den demographischen Wandel, der Anfang der 1970er Jahre begonnen hatte. Trotzdem setzte Kohl mit seinem Finanzminister Stoltenberg bis 1989 eine erfolgreiche Konsolidierung des Bundeshaushalts durch, was allerdings mehr auf die zweistelligen Bundesbankgewinne zurückzuführen ist als auf eine konsequente Sparpolitik. Die nötigen Reformen der Sozialversicherungssysteme unterblieben ebenso wie der Abbau teurer Subventionen. Zudem verpuffte die von großen finanzpolitischen Hilfen vorangetriebene Familienpolitik, mit der die demographische Entwicklung umgedreht werden sollte. Finanzielle Anreize ließen die Bundesbürger nicht kinderreicher werden. Immerhin gelang 1987, was der sozial-liberalen Koalition misslungen war, nämlich eine Steuerreform, die tatsächlich die Entlastung des Bundeshaushalts mit einer Entlastung der Steuerzahler vereinbarte, so dass kurz darauf ein kräftiger Wirtschaftaufschwung einsetzte, der bis auf den mit inzwischen über zwei Millionen Erwerbslosen belasteten Arbeitsmarkt zurückwirkte.

„Es war just in dem Augenblick, als die Bundesregierung ab dem Herbst 1989 […] die Früchte ihrer Anstrengungen hätte ernten können, als das […] Unfassbare geschah und die Berliner Mauer fiel“ (S. 533). Mit dem Stichwort des Mauerfalls sind wir am Höhepunkt des Bökenkamp’schen Dramas angelangt. Denn dass die Vereinigung Deutschlands hauptsächlich sozialstaatlich hergestellt wurde, mehr noch: den Triumph der Sozialpolitik über die Wirtschafts- und Finanzpolitik bedeutete, das macht Bökenkamp eindrucksvoll deutlich. Ob Währungsunion, Treuhand oder Stufentarifvertrag – Bundesregierung und Opposition handelten nach sozialpolitischen Prämissen, um den maroden Osten so schnell wie möglich auf Westniveau zu heben. Das war – aus ökonomischer Sicht – zuviel des Guten. Der Umtauschkurs von 1:1, die schnelle Angleichung der ostdeutschen Löhne an das westdeutsche Niveau, ohne dass auch nur ansatzweise eine ähnliche Produktivität bestanden hätte, und schließlich die Übertragung des westdeutschen Sozialstaats ohne Abstriche ließen nicht nur die Arbeitslosenzahlen in der ehemaligen DDR in die Höhe schnellen, sondern zogen auch im Westen Rezession, Rekordarbeitslosigkeit und Rekordverschuldung nach sich. Erst mit dem Bündnis für Arbeit 1993 und einer internationalen Konjunktur konnte die wirtschaftliche Lage der Bundesrepublik wieder stabilisiert werden.

Auf die retardierende Handlung einer kurzen wirtschaftlichen Erholungsphase lässt Bökenkamp die politische Katastrophe folgen: Denn der ab 1995 einsetzende Aufschwung blieb bis 1998 ohne Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt, so dass an eine Sanierung der Staatsfinanzen und Sozialsysteme nicht zu denken war. Nachdem Kohl noch kämpferisch das Bündnis für Arbeit mit den Gewerkschaften aufgekündigt und damit die größten bundeseutschen Massendemonstrationen seit dem NATO-Doppelbeschluss provoziert hatte, wurde er abgewählt und hinterließ seinem Nachfolger Schröder höhere Schulden und Arbeitslosenzahlen als je ein Kanzler vor ihm.

Es nimmt nach dieser dramatischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung nicht wunder, dass Bökenkamp wiederholt den Mythos von Sisyphos bemüht, um die Arbeit der Bundesregierungen zwischen 1969 und 1998 zu charakterisieren. Fast entsteht der Eindruck, dass die Akteure geradezu zum Scheitern verdammt gewesen seien. Mythisiert Bökenkamp damit unzulässig die Geschichte der bundesdeutschen Finanzpolitik?

Immerhin wird dadurch deutlich, wie begrenzt der Einfluss der Bundesregierung auf die wirtschaftliche Entwicklung in einer pluralistischen Gesellschaft (gewesen) ist. Obwohl sich selbst gern als große Gestalterin in Szene setzend, blieb jede Regierung vielfältigsten Einflussnahmen unterworfen. Seien es nun die Länder mittels des Bundesrats, die Bundesbank, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, das Bundesverfassungsgericht, die eigene Partei oder die Wähler: Die vielen unterschiedlichen Erwartungen und sich einander ausschließenden Ansprüche der verschiedenen Interessengruppen drängten die Akteure dazu, im Zweifelsfall opportunistisch zu handeln. Ohne dies direkt auszusprechen, legt Bökenkamp damit freilich den Schluss nahe, dass die staatlich-institutionellen Strukturen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse nicht nur Teil der Lösung sind, sondern auch Teil des Problems.

Auf einfache Antworten, wie sie etwa Grass verkündet, muss der Leser dennoch verzichten. Bökenkamps Verdienst ist, dass er die nicht immer gesunden Wurzeln der nach wie vor krisengeschüttelten Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik Deutschlands bloßgelegt hat.

geschrieben am 16.09.2010 | 1269 Wörter | 8768 Zeichen

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