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Silbermann


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Rezension von

blaue Blume

Silbermann Fremd sein im eigenen Land Die meisten von uns haben mindestens einmal erlebt, dass man nicht ganz zu einer Gruppe oder ähnlichem gehört. Häufig gerät man in eine „ausgestoßene“ Situation, wenn man es am allerwenigsten gebrauchen kann, wenn man persönliche Entscheidungen treffen muss, beispielsweise wenn man nach einer langjährigen Beziehung sich vom Partner trennt. Sehr problematisch wird die Trennung, wenn Kinder im „Spiel“ sind. Für viele Menschen sind solche persönlichen Entscheidungen nicht nachvollziehbar und reagieren mit Worten, die für die Betroffenen ihre Situation noch unerträglicher machen. Es wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt und im Extremfall wird man gemieden und komplett ausgeschlossen. Man befindet sich gewissermaßen in einem Niemandsland. Man schwankt zwischen Trauer und Wut. Man versucht verzweifelt, sich unsichtbar zu machen, nicht weiter aufzufallen. Solche Situationen sind schrecklich! Doch glücklicherweise leben wir in einer Gesellschaft, in der man Menschen findet, die verständnisvoll und hilfsbereit sind. Aber wie schaut das Leben von Menschen aus, die generell von Gemeinschaften ausgeschlossen werden, weil sie einen kulturellen Hintergrund haben, der uns skeptisch macht oder gar Angst auslöst? Wie fühlen sich diejenigen, die durch ihr Äußeres zunächst nicht auffallen, aber zu religiösen Gemeinschaften gehören, die im Allgemeinen nicht – durch Vorurteile belastet – anerkannt werden? Ist es nicht so, das bis heute die Vorstellung über Juden ist, dass sie das Kapital beherrschen, dass sie mit Hilfe des Geldes die Weltpolitik zu ihren Gunsten beeinflussen? Hört man nicht immer wieder den Ausspruch: „Ich wusste doch, die Juden sind die eigentlichen Regierenden.“, wie beispielsweise nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 (siehe z.B.: „Jüdische Bank hat systematisch deutschen Sparern eine Milliarde Euro geklaut“ , sie beziehen sich auf den Bericht aus dem Stern: „Kurz vor Schluss abkassiert“ ) Nach 1945 halten sich die Deutschen Bürger in der breiten Öffentlichkeit mit Kritik an Juden zurück. Doch stellen wir uns einmal vor, dass es die Nazi-Diktatur nicht gegeben hat. Versetzen wir uns in die Zeit vor 1933, als die Klischees über Juden noch europaweit vorherrschten, salonfähig waren; denn dann können wir uns auf den Roman „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle einlassen. Der Roman „Silbermann“, der in Frankreich „des öfteren Schullektüre am Ende der Mittelstufe“ ist, handelt von zwei Jungen unterschiedlicher Herkunft. Beide stammen aus dem bürgerlichen Milieu: Der Ich-Erzähler entspringt konservativen Kreisen und seine Eltern sind gesellschaftlich anerkannte Persönlichkeiten; der Protagonist David Silbermann stammt aus einer ziemlich liberal-sozialistischen angehauchten Familie. David ist ein blitzgescheiter heranwachsender junger Mann, der eine Klassenstufe übersprungen hat, der die französische Geschichte, insbesondere Literaturgeschichte gut kennt, der keine Scheu hat, große Persönlichkeiten wie Viktor Hugo zu zitieren und auszulegen, ja, der in der Lage ist, Zusammenhänge zu erkennen und wenn nötig zu kritisieren. Diese beiden Jugendlichen begegnen sich in der Schule, genauer gesagt, sie besuchen nun dieselbe Klasse und es beginnt eine Freundschaft. Der Ich-Erzähler ist von David fasziniert und lässt sich gerne von ihm inspirieren. Schon bald stellt sich heraus, dass David dem jüdischen Glauben angehört und es beginnt allmählich ein Spießrutenlauf, der darin gipfelt, dass er voraussichtlich die Schule verlassen muss. In all dieser Zeit hält der Ich-Erzähler zu David, auch dann, als die Mitschüler und vermeintliche Freunde beginnen, auch ihn auszugrenzen. Reicht diese Freundschaft aus, um David zu schützen? Wohin wird das Mobbing gegenüber David führen? Wie schon erwähnt, stammen beide Hauptfiguren aus dem bürgerlichen Milieu. David Silbermann ist ein junger heranwachsender Mensch, der seine Fähigkeiten und Kenntnisse nicht verbirgt, der seinen Stolz offen zutage treten lässt, der sehr mutig ist und seine Herkunft nicht verheimlicht. Außerdem hat er ein Faible für die französische Kultur, insbesondere für Philosophen und Schriftsteller. Silbermann kann problemlos Voltaire zusammenfassen. Aber seine größte Hingabe gilt Victor Hugo, der uns vor allem durch sein Werk „Der Glöckner von Notre Dame“ (1831) bekannt ist. Silbermann ist in der Lage, Werke zu begreifen und scheut sich nicht, auch Kritik zu üben, mal offen, mal zwischen den Zeilen. Die Intelligenz des jungen David wird nicht nur anhand der französischen Kultur deutlich, sondern auch wenn es um die Situation der Juden im Allgemeinen geht: Er zeigt auf, dass das erzwungene Leben im Ghetto im Laufe der Jahrhunderte Konsequenzen hat und zwar für Juden und Nichtjuden. Durch das Leben im Ghetto ist ein starkes Band innerhalb der Juden entstanden. David findet es unfair, dass nun den Juden vorgeworfen wird, dass sie einen Staat im Staate bilden. Silbermann stellt am Ende seines Plädoyers die Frage: „Ist nicht innerhalb einer Nation sowieso nicht jeder einzelne trotz des gemeinsamen Blutes erblich ganz verschieden geprägt – geprägt durch seine Gesellschaftsklasse, geprägt durch seine Religion?“ Der Name „David“ ist ein typisch jüdischer Name. Im Alten Testament gilt David als Nachfolger Sauls, der Juda und Israel zu einem Reich vereinigte. Doch wesentlich geläufiger ist uns die Geschichte „David gegen Goliath“ . In der Bibel wird die Geschichte so beschrieben, dass David theoretisch Goliath unterlegen ist und ihn dennoch besiegt. Im Roman „Silbermann“ kämpft David gegen die Vorurteile gegenüber Juden und da er bis auf den Ich-Erzähler ziemlich alleine damit ist, stellt sich die Frage, ob er aus dieser permanenten Auseinandersetzung glorreich hervorgehen wird. Während David Silbermann im Roman von Jacques de Lacretelle als ein stolzer Jugendlicher beschrieben wird, der offen seine Kenntnisse zeigt, sodass man als Leser immer wieder dazu geneigt ist, ihn als überheblich wahrzunehmen, so ist der Ich-Erzähler in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend, ja, er wirkt grau und blass, unscheinbar, vielleicht sogar ohne Selbstbewusstsein. Seine inneren Vorgänge zeichnen aber ein ganz anderes Bild. Die inneren Vorgänge des Ich-Erzählers zeigen, wohin ein christlich geprägtes Weltbild führen kann, nämlich zu absurden Verhaltensweisen, wie beispielsweise eine künstlich herbeigeführte moralisch verdächtige Situation, nur um diese dann zu besiegen, wie es z.B. auf Seite 22 f. der vorliegenden Ausgabe beschrieben wird. Das Verhalten des Ich-Erzählers ist für einen Jugendlichen Anfang des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich, denn er gibt für die Freundschaft mit David vieles auf: Er gibt eine langjährige Freundschaft auf, da sich herausstellt, dass sein vermeintlicher Freund ein Antisemit ist, ja, der sogar zum Anführer wird, wenn es um die Drangsalierung von David geht. Zudem beginnt der Protagonist das bürgerliche Leben in Frage zu stellen und hinterfragt dabei das Verhalten seiner Eltern. Er durchschaut, dass die hohen moralischen Ansprüche der Bourgeoisie nicht zwangsläufig immer Geltung haben, denn als der Vater von David wegen angeblichen Diebstahls angezeigt wird und der Ich-Erzähler seinen Vater, der Jurist ist, um Hilfe bittet, wird ihm nicht nur die Bitte verwehrt, sondern die Eltern fordern von ihm die Freundschaft zu David abzubrechen mit der Begründung, dass er ansonsten die Karriere seines Vaters gefährdet. So mutig das öffentliche Verhalten vom Ich-Erzähler ist, bleibt eine gewisse Fragwürdigkeit, denn seine wahre Absicht ist, David für den christlichen Glauben allmählich zu gewinnen, wie in Kapitel vier beschrieben, dass heißt, auch er nimmt an, dass der jüdische Glaube nicht der Richtige ist. Der Ich-Erzähler macht eine innere Wandlung durch: Vom naiven Jungen, über einen Idealisten, einhergehend mit genauerem Hinschauen bei seinen Eltern und stellt das Verhalten der Menschen grundsätzlich in Frage, um dann zu seiner Herkunft und deren Weltauffassung zum Teil wieder anzunehmen. Beim Ich-Erzähler muss man zwischen seiner äußeren Wirkung und den inneren Vorgängen unterscheiden, da zwischen diesen beiden ein gewisser Widerspruch entsteht, aber genau dieser Widerspruch macht ihn als Charaktere interessant. Dieses widersprüchliche Verhalten des Erzählers wird teilweise beim Lesepublikum gespiegelt: Sämtliche Leser werden von dieser Charaktere zunächst begeistert sein, doch am Ende des Romans werden die Leser der bürgerlichen Mitte die Rückkehr zum Bürgertum begrüßen, andere Leser werden die Kritik an Justiz und Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken. Die beiden unterschiedlichen Charaktere der Protagonisten zeigen deutlich, nach welchen Maßstäben ein Mensch beurteilt wird. Während David von seiner Umgebung als hochnäsig wahrgenommen wird, gilt der Ich-Erzähler als der Stille und Zurückhaltende. Auch einem Leser kann es schnell passieren, dass er das Verhalten und Reden von David fragwürdig findet, während der Erzähler als mutig (das er ohne Frage ist) und selbstlos wahrgenommen wird. Erst beim genaueren Betrachten der beiden Jungen kann sich dieser Eindruck verändern. Ich finde es immer wieder faszinierend, dass es Schriftsteller gibt, die es schaffen, auf wenigen Seiten (insgesamt 138 Seiten aus dem Lilienfeld-Verlag von 2011) eine Dichte zu erzeugen, die es in sich hat: Neben den beiden Protagonisten, die in ihren Charakterzügen gut dargestellt sind, bekommt man einen Einblick in die französische Literaturgeschichte – die Zeit der Aufklärung und der Realismus kommt immer wieder zum Zuge – Kritik an Literatur, Justiz und Gesellschaft wird durch die beiden Jugendlichen deutlich geäußert und auch literarische Kunstgriffe kommen nicht zu kurz, wie beispielsweise die Wortschöpfung „verunreinigende Finsternis“ zeigt. Für uns heutige deutsche Leser ist es sehr hilfreich, dass in den Anmerkungen, die auf den letzten Seiten sortiert nach Kapiteln zu finden sind, die genannten Personen im Roman mit Lebensdaten und Werken kurz vorgestellt werden. Zudem werden bestimmte Redewendungen und historische Ereignisse in den Anmerkungen erläutert. Jedoch hätte ich es begrüßt, wenn man durch ein Symbol den Leser darauf aufmerksam machen würde, zu welchen Personen und Ereignissen Erläuterungen zu finden sind. Die beiden Übersetzer, Irène Kuhn und Ralf Stamm, haben auch das „Nachwort“ verfasst, aus dem hervorgeht, in welcher Zeit dieser Roman veröffentlicht wurde. Natürlich wird die Frage nach dem Antisemitismus im Kontext der damaligen Zeit gestellt, also nach der Dreyfus-Affäre (1894) und Anfang des 20. Jahrhunderts der Belle Époque. Der Antisemitismus war in großen Teilen der Gesellschaft zu Hause und auch Sozialisten wie Jean Jaurès waren davor nicht gefeit. Selbstverständlich wird im Nachwort auch der Autor Jacques de Lacretelle beleuchtet. Er wird als konservativ beschrieben und dem rechten politischen Lager zugeordnet. Doch es wird deutlich darauf hingewiesen, dass der französische Schriftsteller, der am 14. Juli 1888 geboren wurde, in seinem Leben sich immer wieder brisanten Themen gewidmet hat, sei es der vorliegende Roman mit dem Thema Antisemitismus, für den er 1922 mit „Prix Femina“ ausgezeichnet wurde, oder 1925 mit der Veröffentlichung des Romans „La Bonifas“, dass sich mit der weiblichen Homosexualität befasst. Lacretelle hat sich Themen gewidmet, die zu diesen Zeiten ein Tabu waren. Damit macht es uns die Person Lacretelle schwer, denn wir lieben es, Persönlichkeiten in eine Schublade stecken zu können, entweder konservativ, liberal oder sozialistisch. All das scheint Lacretelle zu sein oder eben auch nicht. Der Mensch besteht aus Widersprüchen und macht auch vor Autoren nicht Halt. Dieser psychologisch gut ausgearbeitete Roman zeigt eindrucksvoll, wohin der alltägliche Antisemitismus führen kann und wie Betroffene damit zu Recht kommen müssen. Dieses Buch wurde 2011 vom Lilienfeld-Verlag mit schöner Ausstattung (Halbleinen) herausgegeben und trifft uns zu einer Zeit, wo die Debatte über Antisemitismus uns wieder eingeholt hat. Vergangenes Jahr war es Günter Grass mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ (April 2012), das viel Wirbel hervorbrachte und zurzeit gilt der Journalist Jakob Augstein aus Sicht des Wiesenthal-Canters als gefährlicher Antisemit. Der Zentralrat der Juden hat sich in die Debatte eingeschaltet und verteidigt den Journalisten. Heutzutage stehen wir vor der schwierigen Aufgabe zu klären, was ist Antisemitismus und was ist berechtigte Kritik an der Politik Israels.

Fremd sein im eigenen Land

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Die meisten von uns haben mindestens einmal erlebt, dass man nicht ganz zu einer Gruppe oder ähnlichem gehört. Häufig gerät man in eine „ausgestoßene“ Situation, wenn man es am allerwenigsten gebrauchen kann, wenn man persönliche Entscheidungen treffen muss, beispielsweise wenn man nach einer langjährigen Beziehung sich vom Partner trennt. Sehr problematisch wird die Trennung, wenn Kinder im „Spiel“ sind.

Für viele Menschen sind solche persönlichen Entscheidungen nicht nachvollziehbar und reagieren mit Worten, die für die Betroffenen ihre Situation noch unerträglicher machen. Es wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt und im Extremfall wird man gemieden und komplett ausgeschlossen. Man befindet sich gewissermaßen in einem Niemandsland. Man schwankt zwischen Trauer und Wut. Man versucht verzweifelt, sich unsichtbar zu machen, nicht weiter aufzufallen.

Solche Situationen sind schrecklich! Doch glücklicherweise leben wir in einer Gesellschaft, in der man Menschen findet, die verständnisvoll und hilfsbereit sind.

Aber wie schaut das Leben von Menschen aus, die generell von Gemeinschaften ausgeschlossen werden, weil sie einen kulturellen Hintergrund haben, der uns skeptisch macht oder gar Angst auslöst? Wie fühlen sich diejenigen, die durch ihr Äußeres zunächst nicht auffallen, aber zu religiösen Gemeinschaften gehören, die im Allgemeinen nicht – durch Vorurteile belastet – anerkannt werden?

Ist es nicht so, das bis heute die Vorstellung über Juden ist, dass sie das Kapital beherrschen, dass sie mit Hilfe des Geldes die Weltpolitik zu ihren Gunsten beeinflussen? Hört man nicht immer wieder den Ausspruch: „Ich wusste doch, die Juden sind die eigentlichen Regierenden.“, wie beispielsweise nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 (siehe z.B.: „Jüdische Bank hat systematisch deutschen Sparern eine Milliarde Euro geklaut“ , sie beziehen sich auf den Bericht aus dem Stern: „Kurz vor Schluss abkassiert“ )

Nach 1945 halten sich die Deutschen Bürger in der breiten Öffentlichkeit mit Kritik an Juden zurück. Doch stellen wir uns einmal vor, dass es die Nazi-Diktatur nicht gegeben hat. Versetzen wir uns in die Zeit vor 1933, als die Klischees über Juden noch europaweit vorherrschten, salonfähig waren; denn dann können wir uns auf den Roman „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle einlassen.

Der Roman „Silbermann“, der in Frankreich „des öfteren Schullektüre am Ende der Mittelstufe“ ist, handelt von zwei Jungen unterschiedlicher Herkunft. Beide stammen aus dem bürgerlichen Milieu: Der Ich-Erzähler entspringt konservativen Kreisen und seine Eltern sind gesellschaftlich anerkannte Persönlichkeiten; der Protagonist David Silbermann stammt aus einer ziemlich liberal-sozialistischen angehauchten Familie.

David ist ein blitzgescheiter heranwachsender junger Mann, der eine Klassenstufe übersprungen hat, der die französische Geschichte, insbesondere Literaturgeschichte gut kennt, der keine Scheu hat, große Persönlichkeiten wie Viktor Hugo zu zitieren und auszulegen, ja, der in der Lage ist, Zusammenhänge zu erkennen und wenn nötig zu kritisieren.

Diese beiden Jugendlichen begegnen sich in der Schule, genauer gesagt, sie besuchen nun dieselbe Klasse und es beginnt eine Freundschaft. Der Ich-Erzähler ist von David fasziniert und lässt sich gerne von ihm inspirieren.

Schon bald stellt sich heraus, dass David dem jüdischen Glauben angehört und es beginnt allmählich ein Spießrutenlauf, der darin gipfelt, dass er voraussichtlich die Schule verlassen muss. In all dieser Zeit hält der Ich-Erzähler zu David, auch dann, als die Mitschüler und vermeintliche Freunde beginnen, auch ihn auszugrenzen.

Reicht diese Freundschaft aus, um David zu schützen? Wohin wird das Mobbing gegenüber David führen?

Wie schon erwähnt, stammen beide Hauptfiguren aus dem bürgerlichen Milieu.

David Silbermann ist ein junger heranwachsender Mensch, der seine Fähigkeiten und Kenntnisse nicht verbirgt, der seinen Stolz offen zutage treten lässt, der sehr mutig ist und seine Herkunft nicht verheimlicht. Außerdem hat er ein Faible für die französische Kultur, insbesondere für Philosophen und Schriftsteller. Silbermann kann problemlos Voltaire zusammenfassen. Aber seine größte Hingabe gilt Victor Hugo, der uns vor allem durch sein Werk „Der Glöckner von Notre Dame“ (1831) bekannt ist. Silbermann ist in der Lage, Werke zu begreifen und scheut sich nicht, auch Kritik zu üben, mal offen, mal zwischen den Zeilen.

Die Intelligenz des jungen David wird nicht nur anhand der französischen Kultur deutlich, sondern auch wenn es um die Situation der Juden im Allgemeinen geht: Er zeigt auf, dass das erzwungene Leben im Ghetto im Laufe der Jahrhunderte Konsequenzen hat und zwar für Juden und Nichtjuden. Durch das Leben im Ghetto ist ein starkes Band innerhalb der Juden entstanden. David findet es unfair, dass nun den Juden vorgeworfen wird, dass sie einen Staat im Staate bilden. Silbermann stellt am Ende seines Plädoyers die Frage: „Ist nicht innerhalb einer Nation sowieso nicht jeder einzelne trotz des gemeinsamen Blutes erblich ganz verschieden geprägt – geprägt durch seine Gesellschaftsklasse, geprägt durch seine Religion?“

Der Name „David“ ist ein typisch jüdischer Name. Im Alten Testament gilt David als Nachfolger Sauls, der Juda und Israel zu einem Reich vereinigte. Doch wesentlich geläufiger ist uns die Geschichte „David gegen Goliath“ . In der Bibel wird die Geschichte so beschrieben, dass David theoretisch Goliath unterlegen ist und ihn dennoch besiegt.

Im Roman „Silbermann“ kämpft David gegen die Vorurteile gegenüber Juden und da er bis auf den Ich-Erzähler ziemlich alleine damit ist, stellt sich die Frage, ob er aus dieser permanenten Auseinandersetzung glorreich hervorgehen wird.

Während David Silbermann im Roman von Jacques de Lacretelle als ein stolzer Jugendlicher beschrieben wird, der offen seine Kenntnisse zeigt, sodass man als Leser immer wieder dazu geneigt ist, ihn als überheblich wahrzunehmen, so ist der Ich-Erzähler in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend, ja, er wirkt grau und blass, unscheinbar, vielleicht sogar ohne Selbstbewusstsein. Seine inneren Vorgänge zeichnen aber ein ganz anderes Bild.

Die inneren Vorgänge des Ich-Erzählers zeigen, wohin ein christlich geprägtes Weltbild führen kann, nämlich zu absurden Verhaltensweisen, wie beispielsweise eine künstlich herbeigeführte moralisch verdächtige Situation, nur um diese dann zu besiegen, wie es z.B. auf Seite 22 f. der vorliegenden Ausgabe beschrieben wird.

Das Verhalten des Ich-Erzählers ist für einen Jugendlichen Anfang des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich, denn er gibt für die Freundschaft mit David vieles auf: Er gibt eine langjährige Freundschaft auf, da sich herausstellt, dass sein vermeintlicher Freund ein Antisemit ist, ja, der sogar zum Anführer wird, wenn es um die Drangsalierung von David geht. Zudem beginnt der Protagonist das bürgerliche Leben in Frage zu stellen und hinterfragt dabei das Verhalten seiner Eltern. Er durchschaut, dass die hohen moralischen Ansprüche der Bourgeoisie nicht zwangsläufig immer Geltung haben, denn als der Vater von David wegen angeblichen Diebstahls angezeigt wird und der Ich-Erzähler seinen Vater, der Jurist ist, um Hilfe bittet, wird ihm nicht nur die Bitte verwehrt, sondern die Eltern fordern von ihm die Freundschaft zu David abzubrechen mit der Begründung, dass er ansonsten die Karriere seines Vaters gefährdet.

So mutig das öffentliche Verhalten vom Ich-Erzähler ist, bleibt eine gewisse Fragwürdigkeit, denn seine wahre Absicht ist, David für den christlichen Glauben allmählich zu gewinnen, wie in Kapitel vier beschrieben, dass heißt, auch er nimmt an, dass der jüdische Glaube nicht der Richtige ist.

Der Ich-Erzähler macht eine innere Wandlung durch: Vom naiven Jungen, über einen Idealisten, einhergehend mit genauerem Hinschauen bei seinen Eltern und stellt das Verhalten der Menschen grundsätzlich in Frage, um dann zu seiner Herkunft und deren Weltauffassung zum Teil wieder anzunehmen.

Beim Ich-Erzähler muss man zwischen seiner äußeren Wirkung und den inneren Vorgängen unterscheiden, da zwischen diesen beiden ein gewisser Widerspruch entsteht, aber genau dieser Widerspruch macht ihn als Charaktere interessant.

Dieses widersprüchliche Verhalten des Erzählers wird teilweise beim Lesepublikum gespiegelt: Sämtliche Leser werden von dieser Charaktere zunächst begeistert sein, doch am Ende des Romans werden die Leser der bürgerlichen Mitte die Rückkehr zum Bürgertum begrüßen, andere Leser werden die Kritik an Justiz und Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken.

Die beiden unterschiedlichen Charaktere der Protagonisten zeigen deutlich, nach welchen Maßstäben ein Mensch beurteilt wird.

Während David von seiner Umgebung als hochnäsig wahrgenommen wird, gilt der Ich-Erzähler als der Stille und Zurückhaltende. Auch einem Leser kann es schnell passieren, dass er das Verhalten und Reden von David fragwürdig findet, während der Erzähler als mutig (das er ohne Frage ist) und selbstlos wahrgenommen wird. Erst beim genaueren Betrachten der beiden Jungen kann sich dieser Eindruck verändern.

Ich finde es immer wieder faszinierend, dass es Schriftsteller gibt, die es schaffen, auf wenigen Seiten (insgesamt 138 Seiten aus dem Lilienfeld-Verlag von 2011) eine Dichte zu erzeugen, die es in sich hat: Neben den beiden Protagonisten, die in ihren Charakterzügen gut dargestellt sind, bekommt man einen Einblick in die französische Literaturgeschichte – die Zeit der Aufklärung und der Realismus kommt immer wieder zum Zuge – Kritik an Literatur, Justiz und Gesellschaft wird durch die beiden Jugendlichen deutlich geäußert und auch literarische Kunstgriffe kommen nicht zu kurz, wie beispielsweise die Wortschöpfung „verunreinigende Finsternis“ zeigt.

Für uns heutige deutsche Leser ist es sehr hilfreich, dass in den Anmerkungen, die auf den letzten Seiten sortiert nach Kapiteln zu finden sind, die genannten Personen im Roman mit Lebensdaten und Werken kurz vorgestellt werden. Zudem werden bestimmte Redewendungen und historische Ereignisse in den Anmerkungen erläutert. Jedoch hätte ich es begrüßt, wenn man durch ein Symbol den Leser darauf aufmerksam machen würde, zu welchen Personen und Ereignissen Erläuterungen zu finden sind.

Die beiden Übersetzer, Irène Kuhn und Ralf Stamm, haben auch das „Nachwort“ verfasst, aus dem hervorgeht, in welcher Zeit dieser Roman veröffentlicht wurde. Natürlich wird die Frage nach dem Antisemitismus im Kontext der damaligen Zeit gestellt, also nach der Dreyfus-Affäre (1894) und Anfang des 20. Jahrhunderts der Belle Époque. Der Antisemitismus war in großen Teilen der Gesellschaft zu Hause und auch Sozialisten wie Jean Jaurès waren davor nicht gefeit.

Selbstverständlich wird im Nachwort auch der Autor Jacques de Lacretelle beleuchtet. Er wird als konservativ beschrieben und dem rechten politischen Lager zugeordnet. Doch es wird deutlich darauf hingewiesen, dass der französische Schriftsteller, der am 14. Juli 1888 geboren wurde, in seinem Leben sich immer wieder brisanten Themen gewidmet hat, sei es der vorliegende Roman mit dem Thema Antisemitismus, für den er 1922 mit „Prix Femina“ ausgezeichnet wurde, oder 1925 mit der Veröffentlichung des Romans „La Bonifas“, dass sich mit der weiblichen Homosexualität befasst.

Lacretelle hat sich Themen gewidmet, die zu diesen Zeiten ein Tabu waren.

Damit macht es uns die Person Lacretelle schwer, denn wir lieben es, Persönlichkeiten in eine Schublade stecken zu können, entweder konservativ, liberal oder sozialistisch. All das scheint Lacretelle zu sein oder eben auch nicht. Der Mensch besteht aus Widersprüchen und macht auch vor Autoren nicht Halt.

Dieser psychologisch gut ausgearbeitete Roman zeigt eindrucksvoll, wohin der alltägliche Antisemitismus führen kann und wie Betroffene damit zu Recht kommen müssen.

Dieses Buch wurde 2011 vom Lilienfeld-Verlag mit schöner Ausstattung (Halbleinen) herausgegeben und trifft uns zu einer Zeit, wo die Debatte über Antisemitismus uns wieder eingeholt hat. Vergangenes Jahr war es Günter Grass mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ (April 2012), das viel Wirbel hervorbrachte und zurzeit gilt der Journalist Jakob Augstein aus Sicht des Wiesenthal-Canters als gefährlicher Antisemit. Der Zentralrat der Juden hat sich in die Debatte eingeschaltet und verteidigt den Journalisten.

Heutzutage stehen wir vor der schwierigen Aufgabe zu klären, was ist Antisemitismus und was ist berechtigte Kritik an der Politik Israels.

geschrieben am 10.03.2013 | 1801 Wörter | 10694 Zeichen

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