ISBN | 3421046697 | |
Autor | Owen Sheers | |
Verlag | Deutsche Verlags-Anstalt | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 304 | |
Erscheinungsjahr | 2016 | |
Extras | - |
Hat sich nicht jeder schon einmal gewünscht, einen Augenblick in seinem Leben ungeschehen machen zu können? Die Taste zum Zurückspulen zu drücken und noch eine zweite Chance zu erhalten? Aber das geht natürlich nicht und so muss man mit dem Geschehenen umgehen und weiterleben. Man trägt die Last des Augenblicks und die Schuld kann einen erdrücken. Und es gibt niemandem, dem man davon erzählen könnte. Genau darum geht es in dem großartigen Roman "I Saw A Man" von Owen Sheers (Jahrgang 1974).
Der erfolgreiche Schriftsteller Michael Turner betritt an einem heißen Samstagmittag das Haus seiner Nachbarn Josh und Samantha Nelson, um sich einen speziellen Schraubenzieher zurückzuholen, den er Josh ausgeliehen hatte. Michael benötigt ihn dringend wieder, um seinen Fechtdegen zu reparieren und seine Trainingsstunde beginnt bald. Es scheint niemand zu Hause zu sein, keiner antwortet ihm. So geht er von Zimmer zu Zimmer, auf der Suche nach seinen Nachbarn und seinem Schraubenzieher. Er kennt die Nelsons und ihre beiden Mädchen Lucy und Rachel (4 und 8 Jahre) seit Monaten, geht bei Ihnen ein und aus, isst mit ihnen, trinkt mit ihnen, spielt mit den Mädchen, geht mit Josh, einem Broker bei Lehman´s, regelmäßig joggen. Sie sind befreundet. Und dann bemerkt Michael, dass er doch nicht alleine in dem Haus ist. Zu spät, und es kommt zu einem tragischen Unfallereignis. (Was genau, möchte ich nicht verraten). Jedenfalls hat Michael diesen Unfall nicht aktiv verursacht oder ausgelöst, aber er hätte sich nicht ereignet, wenn er das Haus an diesem Mittag nicht betreten hätte. Es wäre auch nicht passiert, wenn er gar nicht erst Nachbar der Nelsons geworden und nach London gezogen wäre. Und das wäre nicht geschehen, wenn seine Freundin Caroline, eine ambitionierte Journalistin und Kriegsberichterstatterin, nicht bei einem Einsatz in Pakistan ums Leben gekommen wäre. Das wiederum wäre nicht geschehen, wenn Daniel McCullen nicht die unbemannte Drohne abgefeuert hätte, um Terroristen zu treffen. Die Tragödie im Haus der Nelsons wäre aber auch nicht passiert, wenn Josh Nelson an diesem Mittag zuhause geblieben wäre. War er aber nicht, und zwar aus ganz egoistischen Gründen. Michael und Josh, die nicht ungeschehen machen können, was sich ereignete, behalten ihr Geheimnis jeweils für sich und erzählen Samantha und der Polizei eine andere Version. Die Schuld lastet auf beiden, wenngleich keiner das Geheimnis des jeweils anderen kennt. Aber irgendwann beginnen sie, es zu ahnen.
Das hier ist ein ganz herausragend geschriebenes Buch über die Verkettung von Umständen und die aus einer einzigen Handlung entstehende Kettenreaktion entfernter Ereignisse, die dennoch miteinander verbunden sind. Ein Dominostein nach dem anderen fällt, unaufhaltsam nimmt die Kausalkette ihren Lauf. Mit Josh war es danach nur noch bergab gegangen, im Zuge der Lehman´s-Pleite hat er auch noch seinen Job verloren und seine ohnehin kriselnde Ehe konnte er auch nicht retten. Daniel dagegen schreibt sich seine Verantwortung so gut er kann von der Seele, indem er Briefe an Michael schickt, um zu erklären, wie es zu den Ereignissen in Pakistan gekommen war. Auch ihn haben die Geschehnisse verändert, seine Ehe beeinflusst. Es ist ein Roman über Schuld und Verantwortung und der Frage, ob man sich dieser stellt und wie man damit umgeht. Es sind Männer, die die Schuld tragen, und es sind die Familien, die darunter leiden. Mit Michael und Josh stehen sich am Ende zwei Männer gegenüber, die beide mit ihrer Verantwortung hadern, jeder weiß, dass der andere gelogen hat und doch können sie diesen gordischen Knoten nicht durchtrennen. Letzten Endes bleibt jeder mit seiner Last alleine. Es ist eine Geschichte über menschliches Versagen, über die Fehlerhaftigkeit weniger Sekunden, die den Verlauf des Lebens vieler Betroffener für immer gravierend verändert. Aber es gibt im echten Leben keinen Reset-Schalter, keine Taste zum Zurückspulen. Sheers zeigt, dass alle betroffen sind und niemand ungeschoren bleibt.
Still und ruhig erzählt, von einem Autor mit beneidenswerter Beobachtungsgabe und Feinfühligkeit, nimmt der Roman einen völlig gefangen. Mit ausgefeilter Erzähltechnik und stetem Lesefluss treibt Sheers seinen Roman voran. Das Buch hat nur knapp 300 Seiten und alleine die "Eröffnungssequenz", in der Michael das Haus betritt und durch die Zimmer streift, dehnt sich auf fast 170 Seiten aus, bis das schreckliche Ereignis stattfindet. Das ist unglaublich geschickt gemacht. Während Michael herumgeht erfahren wir in Rückblenden, wie sich die Dinge zuvor zugetragen haben, wie er Caroline kennengelernt hatte, wie sie starb, wie er nach London gezogen und sich mit den Nelsons angefreundet hatte und auch wie es um Josh und Samantha steht. Auch ihre Geschichte wird rückblickend erzählt. Erst mit dem Ereignis an diesem verhängnisvollen Sommermittag kommt der Turn und die Story entwickelt sich nach vorne. Ein tolles Buch, das ich jedem als Herzen legen möchte.
geschrieben am 25.03.2016 | 765 Wörter | 4266 Zeichen
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