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Das Floss der Medusa


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Rezension von

Thomas Stumpf

Das Floss der Medusa Der Österreicher Franzobel nimmt eine schreckliche historische Begebenheit zum Anlass für seinen neuen, vielgelobten Roman, dessen Inhalt ich nachfolgend kurz umreißen möchte. Im Jahr 1816 nimmt Frankreich den Senegal von den Briten wieder zurück in französischen Besitz. Hierzu macht sich ein Schiffskonvoi von der französischen Hafenstadt Rochefort auf nach Saint-Louis, der Hauptstadt des Senegals. Die Fregatte Méduse ist neben der Loire, der Argus und der Echo eines der vier Schiffe. An Bord der Méduse befinden sich 400 Menschen, davon auch 63 Passagiere, unter denen sich Frauen und Kinder befinden. Zu den Passagieren gehört auch der neue Gouverneur des Senegal, Julien-Desiré Schmaltz. Das Schiff läuft am 17.06.1816 aus. Geführt wird das Kommando auf der Méduse vom vollkommen unfähigen Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys, der weder ein Schiff navigieren noch Menschen führen kann, dafür aber an einem schlimmen Reizdarm leidet und ein eitler Modegeck ist. Er ist überzeugter Royalist, und nur dieser Tatsache hat er sein Kommando zu verdanken. Nichts ist ihm mehr zuwider als Demokratie und das einfache Volk. Trotz ausdrücklicher Warnungen vor den tückischen Gewässern, läuft die Méduse auf der berüchtigten Arguin-Sandbank vor der afrikanischen Küste auf Grund. Das Drama nimmt seinen Lauf. Es gibt nur sechs Rettungsboote, viel zu wenige für 400 Menschen. Die Boote werden gewassert, aber nicht voll besetzt. Soweit finden sich Parallelen zur Tragödie der Titanic. Man kommt schließlich auf die Idee, ein riesiges Floss zu bauen, auf dem weitere Personen unterkommen können. Der Kapitän, der bereits als einer der Ersten die Méduse verlassen hat, ordnet dies letztlich an. Die Mannschaft zerlegt gehorsam Teile der Méduse und zimmert grobschlächtig ein etwa 15 x 8 m großes Floss zusammen. Es nimmt am Ende 147 Menschen auf, viel zu viele. Mit den Beibooten versucht man, das Floss zu ziehen, doch das geht sehr schnell schief, die Ruderer schaffen die Last einfach nicht. Man kappt die Taue und überlässt das absolut nicht seetüchtige und steuerungsunfähige Floss seinem Schicksal auf dem offenen Meer. Alsbald beginnt ein unmenschlicher Überlebenskampf. Als das Floss der Medusa schließlich nach 13 Tagen von der Argus aufgefunden wird, haben von den anfangs 147 Menschen darauf nur 15 überlebt. Davon sterben 5 weitere in den nächsten Wochen. Die Tragödie wird dank Schiffsarzt Savigny, einer der Flossüberlebenden, bekannt und schlägt Wellen. Der Marineminister und ca. 200 Offiziere werden aus dem Dienst entlassen. Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys wird zu 3 Jahren Haft verurteilt und unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Franzobel nimmt sich auf knapp 600 Seiten Zeit, die Tragödie nachzuzeichnen. Er hat intensiv die historischen Fakten zu den Ereignissen recherchiert und war sogar selbst zu den Wrackresten der Méduse gesegelt, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Er muss einen enormen Aufwand für die Verwirklichung dieses Werks betrieben haben. Die Geschichte, die er erzählt, ist eine Sache. Die Sprache, derer er sich bedient, eine andere. Im Klappentext heißt es, es sei „ein Epos von großer Kraft“. Und das kann ich nur unterstreichen. Sprachlich ist das hervorragend, allerdings auch gewöhnungsbedürftig, da möchte ich keinen Hehl daraus machen. Es ist nun einmal ein beinahe unmögliches Unterfangen, ein Personal von 400 Menschen unterzukriegen und dabei alle noch beim Namen zu nennen. Selbst reduziert auf die wesentlichen Personen, ist das immer noch eine Menge. Franzobel bedient sich hierbei eines Kniffs: Er überzeichnet die Figuren bis ins Groteske, beinahe hat das stellenweise schon den Charakter einer Parodie. Einzelne Charakterzüge oder Äußerlichkeiten werden extrem hervorgehoben und ständig wiederholt. Es heißt dann z.B. nur noch „Kapitän Reizdarm“ oder einer sieht aus wie Alain Delon oder einer wie Lino Ventura. Der Matrose Hosea ist der „Schwarzenegger-Typ“ oder es wird darüber sinniert, welcher heutige Schauspieler in einer Verfilmung welche Person spielen würde. Der Stotterer Lozach heißt immer „Lo-, Lo-, Lozach“, der Jude Kimmelblatt spricht jiddisch, der schreckliche Smutje Gaines hat eine Hasenscharte, spricht nur in Zischlauten und hat ein „Maiskolbengrinsen“ und so weiter. So gelingt es Franzobel, dem Leser die Figuren geradezu ins Hirn zu brennen, so dass man immer weiß: Aha, das war der und der. Das hat aber auch einen entscheidenden Nachteil: Die zahlreichen Wiederholungen ermüden („Kapitän Reizdarm“ ist nur einmal witzig). Mit der Zeit denkt man sich: Ja, danke, ich habe es begriffen, das ist der und der. Darüber hinaus hat dies zudem eine gewisse Eindimensionalität der Figuren zur Folge und aufgrund der stark hervorgehobenen oberflächlichen Attribute, nimmt man sie weniger als Menschen als vielmehr als abstrakte Prinzipien wahr, was zu einer emotionalen Distanz führt. In „Das Floss der Medusa“ lässt ein hässliches Äußeres immer auch auf ein hässliches Inneres schließen. Das ist ein wenig zu offensichtlich, aber ich nehme an, dass das Absicht ist. Von der Figurenzeichnung her kommt man menschlich nur wenigen nah. Dem jungen Viktor etwa oder dem Schiffsarzt Savigny. Sympathieträger gibt es ohnehin nur sehr wenige, etwa der Matrose Hosea. Die wenigen Frauen kommen generell nicht so gut weg. Sie sind entweder herrisch und anmaßend („Charliiie!!!“) oder obszön-bedrohlich („Sie nimmt ihn in den Mund“) oder einfach nur hübsch, aber dumm. Franzobel hat sich außerdem bei seiner Umsetzung dafür entschieden, keinen historischen Roman im herkömmlichen Sinn zu schreiben (den ich, ehrlich gesagt, lieber gelesen hätte). Er benutzt einen auktorialen Erzähler, der sich immer wieder einschaltet und die Ereignisse oder Handlungsweisen aus der heutigen Zeit kommentiert oder belehrt oder Vergleiche zieht, etwa mit der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer. Kann man so machen, die erzielte Wirkung ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch bin ich als Leser durchaus in der Lage, meine Schlüsse selbst zu ziehen, diesen Freiraum hätte ich gerne gehabt. Zudem geht dieses Vorgehen an den meisten Stellen zu Lasten der aufgebauten Atmosphäre, die dadurch immer wieder gebrochen wird und das manchmal sogar recht plump. Etwa wenn eine Frau auf dem Floss bei einer „Säuberungsaktion“ enthauptet wird und ich plötzlich an der Stelle lesen muss wie ihr Kopf „wie in einem asiatischen Slapstick B-Movie“ durch die Gegend fliegt. Was soll das, bitte? Die besagte Säuberungsaktion, die so ziemlich zum Ende des Buchs passiert, nachdem bereits alle Menschlichkeit über Bord ist und man schon seit Tagen Leichen isst, stellt einen absoluten moralischen Tiefpunkt dar. Man entscheidet sich auf dem Floss unter den letzten Überlebenden dazu, diejenigen, die zu schwach sind, einfach zu töten und ins Wasser zu werfen, damit die Überlebenschancen für die anderen noch um ein paar Tage steigen. Dann so eine Formulierung? Völlig fehl am Platze. Solche Stellen finden sich häufiger. Franzobel hat sich das erforderlich nautische Vokabular angeeignet, sich mit Bräuchen und Gewohnheiten und dem Soziolekt der Seeleute der damaligen Zeit auseinandergesetzt und glänzt mit einer Menge Wissen und Zeitkolorit. Dieses Rüstzeug kommt seinen Beschreibungen zugute und der Leser profitiert davon. Es geht auf dem Schiff nicht zimperlich zu. Die Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten offenbaren sich nicht erst auf dem Floss. Von Anfang an wird damit nicht gespart, da wird schon mal jemand zu Tode gepeitscht. Auf dem Floss wird dann der Mensch auf seinen rohen Kern reduziert, frei nach Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Oder, wie es wörtlich im Buch heißt: "Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr. Jetzt ist es also so weit, der Mensch zeigt seinen Kern, das, was sich hinter der Schminke der Moral und unter der Haut der Kultur verbirgt, das wilde Tier." Zu Beginn und am Ende des Buchs dreht sich einiges um einen jungen Mann, Viktor, der auf der Méduse anheuert, um aus seiner kleinen bürgerlichen Welt zu entkommen. Doch kaum an Bord, wird er vom sadistischen Smutje Gaines und dessen Adlatus misshandelt und drangsaliert. Sie drücken ihm das Gesicht an den glühend heißen Ofen und schlagen ihn halb bewusstlos. Der hasenschartige Gaines ist der Erste, der später auf dem Floss Menschenfleisch essen wird. Zudem geistert die britische Sagenfigur des „Davy Jones“ durch das ganze Buch, eine Art Klabautermann, die Personifizierung des nassen Seemannsgrabs. Und vielleicht war er es, der den bösartigen Smutje am Ende geholt hat. Richtig grausam wird es dann auf dem Floss. Da wird gehackt und geschnitten, es rollen Köpfe und Gliedmaße, fließt das Blut, fressen Haie Menschen, fressen Menschen Menschen, wird Urin getrunken. Und vieles mehr. Doch das ist nicht alles. Franzobel zeichnet mit dem Schicksal der Medusa zugleich ein Bild von der französischen Nation zur maßgeblichen Zeit. Die „Grande Nation“ wird gnadenlos seziert und ihre Unmenschlichkeit offenbart. Alles geschieht im Namen Frankreichs. Man will sogar die Guillotine auf einem Beiboot mitnehmen, die französische Gerechtigkeit darf ja nicht verloren gehen. Sie versinkt aber im Meer. Die gesamte Nation erleidet hier Schiffbruch. Der französische Maler Théodore Géricault erschuf ein Gemälde nach dieser Katastrophe mit dem Titel „Le Radeau de la Méduse“ - „Das Floss der Medusa“. Als Géricault es 1819 ausstellte, war die Resonanz ernüchternd bis vernichtend, denn keiner wollte an das Versagen Frankreichs in dieser schrecklichen Sache erinnert werden. Das Bild hängt heute im Pariser Louvre. Mein Fazit: Ein starkes, heftiges Buch mit vielen beeindruckenden Bildern und sprachlichen Höhepunkten über eine furchtbare historisch belegte Tragödie. Fakten und Fiktion werden gut gemischt. Die Sprache ist kraftvoll und archaisch. Auf dem Floss prallen dann Oberschicht (die Offiziere, die Personifizierung des französischen Staats) und Unterschicht aufeinander und tragen dort, stellvertretend komprimiert auf das Floss, ihren staatlichen Klassenkampf aus. Ressentiments, Rassismus und Antisemitismus sind nur einige der Begleiterscheinungen. Erheblich gestört haben mich die vielen Wiederholungen und vor allem der vermaledeite auktoriale Erzähler, der unnötig zu Brüchen in der Atmosphäre und im Spannungsaufbau geführt hat und der mir zudem manchmal zu oberlehrerhaft und zu plump war. Dafür gibt es von mir einen klaren Punktabzug. Ich denke lieber selbst beim Lesen.

Der Österreicher Franzobel nimmt eine schreckliche historische Begebenheit zum Anlass für seinen neuen, vielgelobten Roman, dessen Inhalt ich nachfolgend kurz umreißen möchte.

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Im Jahr 1816 nimmt Frankreich den Senegal von den Briten wieder zurück in französischen Besitz. Hierzu macht sich ein Schiffskonvoi von der französischen Hafenstadt Rochefort auf nach Saint-Louis, der Hauptstadt des Senegals. Die Fregatte Méduse ist neben der Loire, der Argus und der Echo eines der vier Schiffe. An Bord der Méduse befinden sich 400 Menschen, davon auch 63 Passagiere, unter denen sich Frauen und Kinder befinden. Zu den Passagieren gehört auch der neue Gouverneur des Senegal, Julien-Desiré Schmaltz. Das Schiff läuft am 17.06.1816 aus. Geführt wird das Kommando auf der Méduse vom vollkommen unfähigen Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys, der weder ein Schiff navigieren noch Menschen führen kann, dafür aber an einem schlimmen Reizdarm leidet und ein eitler Modegeck ist. Er ist überzeugter Royalist, und nur dieser Tatsache hat er sein Kommando zu verdanken. Nichts ist ihm mehr zuwider als Demokratie und das einfache Volk. Trotz ausdrücklicher Warnungen vor den tückischen Gewässern, läuft die Méduse auf der berüchtigten Arguin-Sandbank vor der afrikanischen Küste auf Grund. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Es gibt nur sechs Rettungsboote, viel zu wenige für 400 Menschen. Die Boote werden gewassert, aber nicht voll besetzt. Soweit finden sich Parallelen zur Tragödie der Titanic. Man kommt schließlich auf die Idee, ein riesiges Floss zu bauen, auf dem weitere Personen unterkommen können. Der Kapitän, der bereits als einer der Ersten die Méduse verlassen hat, ordnet dies letztlich an. Die Mannschaft zerlegt gehorsam Teile der Méduse und zimmert grobschlächtig ein etwa 15 x 8 m großes Floss zusammen. Es nimmt am Ende 147 Menschen auf, viel zu viele. Mit den Beibooten versucht man, das Floss zu ziehen, doch das geht sehr schnell schief, die Ruderer schaffen die Last einfach nicht. Man kappt die Taue und überlässt das absolut nicht seetüchtige und steuerungsunfähige Floss seinem Schicksal auf dem offenen Meer. Alsbald beginnt ein unmenschlicher Überlebenskampf. Als das Floss der Medusa schließlich nach 13 Tagen von der Argus aufgefunden wird, haben von den anfangs 147 Menschen darauf nur 15 überlebt. Davon sterben 5 weitere in den nächsten Wochen. Die Tragödie wird dank Schiffsarzt Savigny, einer der Flossüberlebenden, bekannt und schlägt Wellen. Der Marineminister und ca. 200 Offiziere werden aus dem Dienst entlassen. Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys wird zu 3 Jahren Haft verurteilt und unehrenhaft aus dem Dienst entlassen.

Franzobel nimmt sich auf knapp 600 Seiten Zeit, die Tragödie nachzuzeichnen. Er hat intensiv die historischen Fakten zu den Ereignissen recherchiert und war sogar selbst zu den Wrackresten der Méduse gesegelt, um sich einen Eindruck zu verschaffen. Er muss einen enormen Aufwand für die Verwirklichung dieses Werks betrieben haben. Die Geschichte, die er erzählt, ist eine Sache. Die Sprache, derer er sich bedient, eine andere. Im Klappentext heißt es, es sei „ein Epos von großer Kraft“. Und das kann ich nur unterstreichen. Sprachlich ist das hervorragend, allerdings auch gewöhnungsbedürftig, da möchte ich keinen Hehl daraus machen. Es ist nun einmal ein beinahe unmögliches Unterfangen, ein Personal von 400 Menschen unterzukriegen und dabei alle noch beim Namen zu nennen. Selbst reduziert auf die wesentlichen Personen, ist das immer noch eine Menge. Franzobel bedient sich hierbei eines Kniffs: Er überzeichnet die Figuren bis ins Groteske, beinahe hat das stellenweise schon den Charakter einer Parodie. Einzelne Charakterzüge oder Äußerlichkeiten werden extrem hervorgehoben und ständig wiederholt. Es heißt dann z.B. nur noch „Kapitän Reizdarm“ oder einer sieht aus wie Alain Delon oder einer wie Lino Ventura. Der Matrose Hosea ist der „Schwarzenegger-Typ“ oder es wird darüber sinniert, welcher heutige Schauspieler in einer Verfilmung welche Person spielen würde. Der Stotterer Lozach heißt immer „Lo-, Lo-, Lozach“, der Jude Kimmelblatt spricht jiddisch, der schreckliche Smutje Gaines hat eine Hasenscharte, spricht nur in Zischlauten und hat ein „Maiskolbengrinsen“ und so weiter. So gelingt es Franzobel, dem Leser die Figuren geradezu ins Hirn zu brennen, so dass man immer weiß: Aha, das war der und der.

Das hat aber auch einen entscheidenden Nachteil: Die zahlreichen Wiederholungen ermüden („Kapitän Reizdarm“ ist nur einmal witzig). Mit der Zeit denkt man sich: Ja, danke, ich habe es begriffen, das ist der und der. Darüber hinaus hat dies zudem eine gewisse Eindimensionalität der Figuren zur Folge und aufgrund der stark hervorgehobenen oberflächlichen Attribute, nimmt man sie weniger als Menschen als vielmehr als abstrakte Prinzipien wahr, was zu einer emotionalen Distanz führt. In „Das Floss der Medusa“ lässt ein hässliches Äußeres immer auch auf ein hässliches Inneres schließen. Das ist ein wenig zu offensichtlich, aber ich nehme an, dass das Absicht ist. Von der Figurenzeichnung her kommt man menschlich nur wenigen nah. Dem jungen Viktor etwa oder dem Schiffsarzt Savigny. Sympathieträger gibt es ohnehin nur sehr wenige, etwa der Matrose Hosea. Die wenigen Frauen kommen generell nicht so gut weg. Sie sind entweder herrisch und anmaßend („Charliiie!!!“) oder obszön-bedrohlich („Sie nimmt ihn in den Mund“) oder einfach nur hübsch, aber dumm.

Franzobel hat sich außerdem bei seiner Umsetzung dafür entschieden, keinen historischen Roman im herkömmlichen Sinn zu schreiben (den ich, ehrlich gesagt, lieber gelesen hätte). Er benutzt einen auktorialen Erzähler, der sich immer wieder einschaltet und die Ereignisse oder Handlungsweisen aus der heutigen Zeit kommentiert oder belehrt oder Vergleiche zieht, etwa mit der Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer. Kann man so machen, die erzielte Wirkung ist nicht von der Hand zu weisen. Dennoch bin ich als Leser durchaus in der Lage, meine Schlüsse selbst zu ziehen, diesen Freiraum hätte ich gerne gehabt. Zudem geht dieses Vorgehen an den meisten Stellen zu Lasten der aufgebauten Atmosphäre, die dadurch immer wieder gebrochen wird und das manchmal sogar recht plump. Etwa wenn eine Frau auf dem Floss bei einer „Säuberungsaktion“ enthauptet wird und ich plötzlich an der Stelle lesen muss wie ihr Kopf „wie in einem asiatischen Slapstick B-Movie“ durch die Gegend fliegt. Was soll das, bitte? Die besagte Säuberungsaktion, die so ziemlich zum Ende des Buchs passiert, nachdem bereits alle Menschlichkeit über Bord ist und man schon seit Tagen Leichen isst, stellt einen absoluten moralischen Tiefpunkt dar. Man entscheidet sich auf dem Floss unter den letzten Überlebenden dazu, diejenigen, die zu schwach sind, einfach zu töten und ins Wasser zu werfen, damit die Überlebenschancen für die anderen noch um ein paar Tage steigen. Dann so eine Formulierung? Völlig fehl am Platze. Solche Stellen finden sich häufiger.

Franzobel hat sich das erforderlich nautische Vokabular angeeignet, sich mit Bräuchen und Gewohnheiten und dem Soziolekt der Seeleute der damaligen Zeit auseinandergesetzt und glänzt mit einer Menge Wissen und Zeitkolorit. Dieses Rüstzeug kommt seinen Beschreibungen zugute und der Leser profitiert davon. Es geht auf dem Schiff nicht zimperlich zu. Die Unmenschlichkeiten und Grausamkeiten offenbaren sich nicht erst auf dem Floss. Von Anfang an wird damit nicht gespart, da wird schon mal jemand zu Tode gepeitscht. Auf dem Floss wird dann der Mensch auf seinen rohen Kern reduziert, frei nach Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Oder, wie es wörtlich im Buch heißt: "Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr. Jetzt ist es also so weit, der Mensch zeigt seinen Kern, das, was sich hinter der Schminke der Moral und unter der Haut der Kultur verbirgt, das wilde Tier."

Zu Beginn und am Ende des Buchs dreht sich einiges um einen jungen Mann, Viktor, der auf der Méduse anheuert, um aus seiner kleinen bürgerlichen Welt zu entkommen. Doch kaum an Bord, wird er vom sadistischen Smutje Gaines und dessen Adlatus misshandelt und drangsaliert. Sie drücken ihm das Gesicht an den glühend heißen Ofen und schlagen ihn halb bewusstlos. Der hasenschartige Gaines ist der Erste, der später auf dem Floss Menschenfleisch essen wird. Zudem geistert die britische Sagenfigur des „Davy Jones“ durch das ganze Buch, eine Art Klabautermann, die Personifizierung des nassen Seemannsgrabs. Und vielleicht war er es, der den bösartigen Smutje am Ende geholt hat.

Richtig grausam wird es dann auf dem Floss. Da wird gehackt und geschnitten, es rollen Köpfe und Gliedmaße, fließt das Blut, fressen Haie Menschen, fressen Menschen Menschen, wird Urin getrunken. Und vieles mehr.

Doch das ist nicht alles. Franzobel zeichnet mit dem Schicksal der Medusa zugleich ein Bild von der französischen Nation zur maßgeblichen Zeit. Die „Grande Nation“ wird gnadenlos seziert und ihre Unmenschlichkeit offenbart. Alles geschieht im Namen Frankreichs. Man will sogar die Guillotine auf einem Beiboot mitnehmen, die französische Gerechtigkeit darf ja nicht verloren gehen. Sie versinkt aber im Meer. Die gesamte Nation erleidet hier Schiffbruch. Der französische Maler Théodore Géricault erschuf ein Gemälde nach dieser Katastrophe mit dem Titel „Le Radeau de la Méduse“ - „Das Floss der Medusa“. Als Géricault es 1819 ausstellte, war die Resonanz ernüchternd bis vernichtend, denn keiner wollte an das Versagen Frankreichs in dieser schrecklichen Sache erinnert werden. Das Bild hängt heute im Pariser Louvre.

Mein Fazit:

Ein starkes, heftiges Buch mit vielen beeindruckenden Bildern und sprachlichen Höhepunkten über eine furchtbare historisch belegte Tragödie. Fakten und Fiktion werden gut gemischt. Die Sprache ist kraftvoll und archaisch. Auf dem Floss prallen dann Oberschicht (die Offiziere, die Personifizierung des französischen Staats) und Unterschicht aufeinander und tragen dort, stellvertretend komprimiert auf das Floss, ihren staatlichen Klassenkampf aus. Ressentiments, Rassismus und Antisemitismus sind nur einige der Begleiterscheinungen. Erheblich gestört haben mich die vielen Wiederholungen und vor allem der vermaledeite auktoriale Erzähler, der unnötig zu Brüchen in der Atmosphäre und im Spannungsaufbau geführt hat und der mir zudem manchmal zu oberlehrerhaft und zu plump war. Dafür gibt es von mir einen klaren Punktabzug. Ich denke lieber selbst beim Lesen.

geschrieben am 12.03.2018 | 1571 Wörter | 8859 Zeichen

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