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Unterwegs im Monolog – Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazions


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Rezension von

Jan Robert Weber

Unterwegs im Monolog – Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazions Das Werk des Schriftstellers Wilhelm Genazino hat Iris Radisch als Alternative zur allgegenwärtigen Popliteratur bezeichnet: Gegen die endlose Verlängerung der Kindheit aus der Scheinwirklichkeit des Fernsehens und der neuen Medien böten Genazinos Erzählungen eine treffsichere Beschreibung des bundesdeutschen Biedermeier – und stellten der gegenwärtigen transzendentalen Obdachlosigkeit eine literarisch geprägte Lohnsteuerkarte aus. Tatsächlich kreist das Werk des Frankfurter Schriftstellers wie kaum ein zweites in der deutschen Gegenwartsliteratur um Ängste und Sorgen einsamer Angestellter wie isolierter Künstlernaturen, mithin um die Phänomenologie des bunderepublikanischen Alltags, wobei ganz und gar nicht einsinnnig die Klage über Entfremdung, Identifikationskrise und Wirklichkeitsverlust angestimmt wird. Dem bundesdeutschen Literaturbetrieb ist Genazino keineswegs entgangen. Mittlerweile wurde der Frankfurter vielfach geehrt, sein Werk preisgekrönt. Einige seiner Romane avancierten zu Bestsellern. Grund genug, dass sich auch die Literaturwissenschaft seiner annimmt. Im Dezember ist nun eine größere Arbeit über diesen bedeutenden Gegenwartsautor erschienen: Jonas Fansas „Unterwegs im Monolog. Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazinos“ öffnet das fast verschlossen wirkende Oeuvre mit literaturwissenschaftlichem Besteck. In drei Kapiteln untersucht Fansa Erzählsprache, Motivik und Figuren der Genazino’schen Prosa, wobei er „Die Liebe zur Einfalt“ (1990) zum Schlüsseltext des Gesamtwerks erklärt. Fansa versteht den autobiographischen Roman als Allegorie auf die Prosakarriere ihres Autors. In ihm sei der basale „Bauplankatalog für Genazinofiguren“ angelegt, die dem Leser schon in der frühen Roman-Trilogie „Abschaffel“ (1977-1979) entgegentreten und ihm auch in den späteren Romanen wie „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) oder „Die Liebesblödigkeit“ (2005) begegnen. Demnach besteht das poetologische Fundament, auf dem sich Genazinos Flaneure die Hacken ablaufen, einerseits aus der Enttäuschung über die kleinbürgerliche Welt der Adenauer-Ära, andererseits aus dem künstlerischen Willen, die schamerfüllte Sprachlosigkeit der Elterngeneration zu bewältigen. Kurz gesagt ist Fansas These folgende: Bei Genazinos Prosa handelt es sich um eine Poetik des Widerstands gegen „väterliche Verlassenheit“ und „mütterliche Verstörtheit“, die der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft die plappernd emanzipatorische Sprachmächtigkeit des flanierenden Einzelgängers entgegenhält. Für gewöhnlich wird Genazinos Prosakarriere keineswegs als bruchlos beschrieben. Auf die vielfach beachtetete Angestellten-Trilogie „Abschaffel“ folgte in den 1980er Jahren eine längere Phase des Schweigens, die erst mit dem Finden eines neuen Tons – dem fragmentarischen Erzählen – zu Beginn der 1990er Jahre überwunden werden konnte. Von da an wandeln sich die Erzählungen vom Angestellten- zum Künstler-Roman, geht der kalte Blick der Außenansicht mit einer innerlich-warmen Perspektive zusammen. Dabei wird die Spannung von Literatur und Leben als „Gesamtmerkwürdigkeit“ flanierend beschrieben, monologisierend immer wieder umformuliert und endlich ausgehalten. Fansa streitet diese Entwicklung keineswegs ab, aber er hat die offensichtliche Werkgenese auf einleuchtende Weise differenziert. Seine eingehenden Untersuchungen der Sprachbilder, Motivik und Thematik legen die Kontinuität des erzählerischen Gesamtwerks frei. Demzufolge arbeiten sich alle Erzähltexte immer wieder an ähnlichen Komplexen des Chaos, der Unordnung und der Kindheitserinnerung ab, setzen mit den verwandten Motiven des Staubs, der Schuhe und der Brief-Post eine Alltagspoesie ins Recht, die ihren Figuren eine „Einsamkeitserlaubnis“ erteilt und damit nichts weniger als eine Daseinsberechtigung für den Einzelgänger bedeutet. Im Werk Genazinos wird das wehe Gefühl der Heimatlosigkeit gleichsam erlöst, ohne dass es um eine einfältige Wahrheitsfindung ginge, indem das Erzählen selbst zur Heimat der literarischen Protagonisten und ihres Autors wird. Die Erzählungen funktionieren folgendermaßen: Der frühe und stetige „Fluchtreflex“ der Protagonisten wird im flanierenden „Wechsel der Szenerien“ in die momentweise „Geborgenheit“ der Fiktion überführt, die die „intellektuellen Penner“ vor unerträglicher Kleinbürgerlichkeit ebenso bewahren soll wie vor den Zumutungen einer medial verzerrten und ökonomisch deformierten Alltagsrealität. Der Erzähler ist dabei immer ein „Verführer zur Differenz“, einer „Ästhetik des Bilderwechsels“ gehorchend, die den Künstler-Typus des Flaneurs für die Postmoderne wieder auferstehen lässt. Genazino lässt den unlösbaren „Erzählzwang“ mit einer „Unsagbarkeits-Angst“ korrespondieren, so dass die "richtig erzählten Geschichte" ebenso ausbleibt wie das Erzählwerk in einer kunstvollen Spannung gehalten wird. Jonas Fansas Dissertation ist eine erhellende und anregende Arbeit in der erst einsetzenden literaturwissenschaftlichen Erforschung von Genazinos Oeuvre. Leider vermisst man eine solide Einordnung in den literarhistorischen Kontext der 68er-Autoren, zu denen Genazino zweifellos gehört. Dieser Mangel wird jedoch durch eine gründliche Textanalyse wettgemacht. Die Dissertation bietet zudem einen unschätzbaren und in der Germanistik seltenen Vorteil: Sie ist glänzend geschrieben. Dabei verblüfft, dass Fansa nicht viele Worte macht: Auf 150 Seiten bringt er uns einen wichtigen und schwierigen Gegenwartsautor ebenso pointiert wie essayistisch nahe.

Das Werk des Schriftstellers Wilhelm Genazino hat Iris Radisch als Alternative zur allgegenwärtigen Popliteratur bezeichnet: Gegen die endlose Verlängerung der Kindheit aus der Scheinwirklichkeit des Fernsehens und der neuen Medien böten Genazinos Erzählungen eine treffsichere Beschreibung des bundesdeutschen Biedermeier – und stellten der gegenwärtigen transzendentalen Obdachlosigkeit eine literarisch geprägte Lohnsteuerkarte aus. Tatsächlich kreist das Werk des Frankfurter Schriftstellers wie kaum ein zweites in der deutschen Gegenwartsliteratur um Ängste und Sorgen einsamer Angestellter wie isolierter Künstlernaturen, mithin um die Phänomenologie des bunderepublikanischen Alltags, wobei ganz und gar nicht einsinnnig die Klage über Entfremdung, Identifikationskrise und Wirklichkeitsverlust angestimmt wird. Dem bundesdeutschen Literaturbetrieb ist Genazino keineswegs entgangen. Mittlerweile wurde der Frankfurter vielfach geehrt, sein Werk preisgekrönt. Einige seiner Romane avancierten zu Bestsellern. Grund genug, dass sich auch die Literaturwissenschaft seiner annimmt. Im Dezember ist nun eine größere Arbeit über diesen bedeutenden Gegenwartsautor erschienen: Jonas Fansas „Unterwegs im Monolog. Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazinos“ öffnet das fast verschlossen wirkende Oeuvre mit literaturwissenschaftlichem Besteck.

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In drei Kapiteln untersucht Fansa Erzählsprache, Motivik und Figuren der Genazino’schen Prosa, wobei er „Die Liebe zur Einfalt“ (1990) zum Schlüsseltext des Gesamtwerks erklärt. Fansa versteht den autobiographischen Roman als Allegorie auf die Prosakarriere ihres Autors. In ihm sei der basale „Bauplankatalog für Genazinofiguren“ angelegt, die dem Leser schon in der frühen Roman-Trilogie „Abschaffel“ (1977-1979) entgegentreten und ihm auch in den späteren Romanen wie „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) oder „Die Liebesblödigkeit“ (2005) begegnen. Demnach besteht das poetologische Fundament, auf dem sich Genazinos Flaneure die Hacken ablaufen, einerseits aus der Enttäuschung über die kleinbürgerliche Welt der Adenauer-Ära, andererseits aus dem künstlerischen Willen, die schamerfüllte Sprachlosigkeit der Elterngeneration zu bewältigen. Kurz gesagt ist Fansas These folgende: Bei Genazinos Prosa handelt es sich um eine Poetik des Widerstands gegen „väterliche Verlassenheit“ und „mütterliche Verstörtheit“, die der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft die plappernd emanzipatorische Sprachmächtigkeit des flanierenden Einzelgängers entgegenhält.

Für gewöhnlich wird Genazinos Prosakarriere keineswegs als bruchlos beschrieben. Auf die vielfach beachtetete Angestellten-Trilogie „Abschaffel“ folgte in den 1980er Jahren eine längere Phase des Schweigens, die erst mit dem Finden eines neuen Tons – dem fragmentarischen Erzählen – zu Beginn der 1990er Jahre überwunden werden konnte. Von da an wandeln sich die Erzählungen vom Angestellten- zum Künstler-Roman, geht der kalte Blick der Außenansicht mit einer innerlich-warmen Perspektive zusammen. Dabei wird die Spannung von Literatur und Leben als „Gesamtmerkwürdigkeit“ flanierend beschrieben, monologisierend immer wieder umformuliert und endlich ausgehalten.

Fansa streitet diese Entwicklung keineswegs ab, aber er hat die offensichtliche Werkgenese auf einleuchtende Weise differenziert. Seine eingehenden Untersuchungen der Sprachbilder, Motivik und Thematik legen die Kontinuität des erzählerischen Gesamtwerks frei. Demzufolge arbeiten sich alle Erzähltexte immer wieder an ähnlichen Komplexen des Chaos, der Unordnung und der Kindheitserinnerung ab, setzen mit den verwandten Motiven des Staubs, der Schuhe und der Brief-Post eine Alltagspoesie ins Recht, die ihren Figuren eine „Einsamkeitserlaubnis“ erteilt und damit nichts weniger als eine Daseinsberechtigung für den Einzelgänger bedeutet. Im Werk Genazinos wird das wehe Gefühl der Heimatlosigkeit gleichsam erlöst, ohne dass es um eine einfältige Wahrheitsfindung ginge, indem das Erzählen selbst zur Heimat der literarischen Protagonisten und ihres Autors wird. Die Erzählungen funktionieren folgendermaßen: Der frühe und stetige „Fluchtreflex“ der Protagonisten wird im flanierenden „Wechsel der Szenerien“ in die momentweise „Geborgenheit“ der Fiktion überführt, die die „intellektuellen Penner“ vor unerträglicher Kleinbürgerlichkeit ebenso bewahren soll wie vor den Zumutungen einer medial verzerrten und ökonomisch deformierten Alltagsrealität. Der Erzähler ist dabei immer ein „Verführer zur Differenz“, einer „Ästhetik des Bilderwechsels“ gehorchend, die den Künstler-Typus des Flaneurs für die Postmoderne wieder auferstehen lässt. Genazino lässt den unlösbaren „Erzählzwang“ mit einer „Unsagbarkeits-Angst“ korrespondieren, so dass die "richtig erzählten Geschichte" ebenso ausbleibt wie das Erzählwerk in einer kunstvollen Spannung gehalten wird.

Jonas Fansas Dissertation ist eine erhellende und anregende Arbeit in der erst einsetzenden literaturwissenschaftlichen Erforschung von Genazinos Oeuvre. Leider vermisst man eine solide Einordnung in den literarhistorischen Kontext der 68er-Autoren, zu denen Genazino zweifellos gehört. Dieser Mangel wird jedoch durch eine gründliche Textanalyse wettgemacht. Die Dissertation bietet zudem einen unschätzbaren und in der Germanistik seltenen Vorteil: Sie ist glänzend geschrieben. Dabei verblüfft, dass Fansa nicht viele Worte macht: Auf 150 Seiten bringt er uns einen wichtigen und schwierigen Gegenwartsautor ebenso pointiert wie essayistisch nahe.

geschrieben am 07.03.2008 | 687 Wörter | 4818 Zeichen

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