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Michael Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes Phänomenologie der Moderne.


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Rezension von

Jan Robert Weber

Michael Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes Phänomenologie der Moderne. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, heißt es in den Schlussversen der Fausttragödie zweiter Teil. Die literarische Figur Fausts zu deuten, sie interpretierend der Gegenwart zu erschließen und damit einen allzu häufig ‚überlesenen’ Klassiker dem Publikum wieder nahe zu bringen, ist eine Kernaufgabe der Literaturwissenschaft. An ihr haben sich schon unzählige Philologen versucht. Dementsprechend schwankt das Faust-Bild – und damit das Goethes – in der Geschichte. Mit der Habilitationsschrift „Fausts Kolonie“ liegt nun der jüngste Versuch einer Aktualisierung der Tragödie vor, die der Germanist Michael Jaeger von der Freien Universität Berlin unlängst bei Königshausen & Neumann veröffentlicht hat. Der Nachweis von Fausts Modernität (und mithin Goethes Aktualisierung) gelingt Jaeger, indem er das Werk auf einen noch relativ jungen Diskurs bezieht. Demnach wird die Moderne als ein im 18. Jahrhundert beginnendes Zeitalter der Beschleunigung begriffen, das sowohl dem Einzelnen als auch der Gesellschaft weder die nötige Muße zur Erholung von der durchrationalisierten Alltagswelt erlaubt noch die erforderliche Ruhe gönnt, über die stetige Veränderung aller Lebensbereiche, Normen und Gewissheiten zu reflektieren. Was heute „Akzeleration“ heißt oder als „rasender Stillstand“ (P. Virilio) bezeichnet wird, hat indessen schon Goethe mit der adjektivischen Wortschöpfung des „Veloziferischen“ benannt, in der die generell ablehnende Haltung des Dichters gegenüber der einsetzenden rastlosen Lebenswirklichkeit seiner Zeit mit der Verschränkung von Velocitas (Eile) mit Luzifer anklingt. „Für das größte Unheil der Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten“, so Goethe 1825, „daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. […] und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Welttheil zu Welttheil, alles veloziferisch.“ Vor allem die umwälzenden politischen wie kulturellen Entwicklungen seit 1789 – Revolution, Industrialisierung und (Bürger-)Krieg – vermochte der Weimarer Dichterfürst in seiner Eigenschaft als „Krisenphänomenologe“ und Modernekritiker nur pathologisch zu deuten, liefen sie doch dem klassischen Ideal der Persönlichkeitsentfaltung sowie dem Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschen in zunehmendem Maße zuwider. Umso mehr verwundert es, dass die Mehrheit der Goethe-Interpreten jahrzehntelang in der Figur des Faust vor allem den Prototypen des modernen und emanzipierten Subjekts erkennen wollte, das zwar seine tragischen Züge schuldhafter Verstrickung besitze, insgesamt jedoch als Held des „Projekts der Moderne“ (J. Habermas) gelten müsste. Nicht nur Spengler entlieh sich Goethes wohl berühmtesten Dramenprotagonisten, um das neuzeitliche Europa als „faustische Kultur“ zu klassifizieren (demnach ließ Goethe im Faust-Drama den typisch „abendländischen Willen“ nach technischer Weltbeherrschung zu sich selbst kommen). Als Identifikationsfigur musste Faust auch der sozialistischen Rezeption dienen. Und im freien Westen klangen Fausts letzte Worte vom „paradiesisch Land“ nicht minder eingängig, wenn der Protagonist „ein Gewimmel […] auf freiem Grund mit freiem Volke“ visionär schaute, um dann mit dem „Verweile doch, du bist so schön!“ von der Bühne ein für allemal abzutreten. Jaeger widerspricht dieser Deutungstradition grundsätzlich: Faust sei weder als vorbildlicher noch als gebrochener Held gestaltet worden, sondern als „Antipode der klassischen Lebenskunstlehre“. Faust – eine Leitfigur ex negativo also! In fünf umfänglichen Kapiteln, einem „ideengeschichtlichen Epilog“ samt informativem Forschungsüberblick legt der Berliner Germanist dar, dass der späte Goethe auf die Revolutionsereignisse seiner Epoche mit einer eindeutig modernekritischen Resignationsphilosophie reagierte, die in „Faust II“ ihren letztgültigen literarischen Ausdruck gefunden hat. Tatsächlich zeugen Biographie und Werk Goethes davon, dass sich der Altmeister gegen den ästhetischen und politischen „Dilettantismus“ der Romantik und des Vormärz wandte. Dass er sich von Nationalismus und Frühsozialismus zunehmend in die Defensive gedrängt sah. Und dass ihm seine auf Kant fußende Position der Aufklärung in den Ruch des Unzeitgemäßen ebenso geraten zu sein schien wie der Kernbestand klassischer Persönlichkeitsbildung der Ataraxia und des Otium. Goethes späte Werke stellen denn auch, so Jaeger, nicht die Früchte eines in den literarischen Olymp entrückten Weisen dar, sondern sind Produkte eines prekären Krisenbewusstseins, das seit der traumatischen Erfahrung der Französischen Revolution wuchs – und seitdem ebenso mühevoll wie letztlich vergeblich um Beruhigung rang. Da sind die „Campagne in Frankreich“ und die „Belagerung von Mainz“ (1822) der Autobiographie, das ist die „Italienische Reise“ (1816/17 und 1829) mit der literarisch inszenierten Wiedergeburt des Dichters in Rom und da ist schließlich „Faust II“ (1831), jene „Tragödie“ (!), die am Schluss von der Vernichtung Philemons und Baucis’ durch Fausts Forscherdrang und Umgestaltungswut handelt. Während die uralte Behausung des mythischen Ehepaars in Flammen aufgeht, entsteht in einer gigantischen Baustelle die künstliche Welt moderner Zivilisation: „Was sich sonst dem Blick empfohlen, // Mit Jahrhunderten ist hin“, lauten die Verse zum Untergang der alten Ordnung, während Fausts geplante „Kolonie“ unmittelbar nach dessen Tod als „vollkommenes Einerlei“ erscheint. Wer das Drama zur Hand nimmt, kann schnell nachvollziehen, dass Faust tatsächlich „eine veritable Unglücksfigur“ darstellt. Dass aber der Blick für diese Lesart frei geworden ist, ist Jaegers großes Verdienst (und rechtfertigt den beträchtlichen Umfang seines literaturwissenschaftlichen Opus). Ein Klassiker der Weltliteratur ist neu entdeckt worden. Mehr kann von einer wissenschaftlichen Arbeit kaum verlangt werden.

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, heißt es in den Schlussversen der Fausttragödie zweiter Teil. Die literarische Figur Fausts zu deuten, sie interpretierend der Gegenwart zu erschließen und damit einen allzu häufig ‚überlesenen’ Klassiker dem Publikum wieder nahe zu bringen, ist eine Kernaufgabe der Literaturwissenschaft. An ihr haben sich schon unzählige Philologen versucht. Dementsprechend schwankt das Faust-Bild – und damit das Goethes – in der Geschichte. Mit der Habilitationsschrift „Fausts Kolonie“ liegt nun der jüngste Versuch einer Aktualisierung der Tragödie vor, die der Germanist Michael Jaeger von der Freien Universität Berlin unlängst bei Königshausen & Neumann veröffentlicht hat.

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Der Nachweis von Fausts Modernität (und mithin Goethes Aktualisierung) gelingt Jaeger, indem er das Werk auf einen noch relativ jungen Diskurs bezieht. Demnach wird die Moderne als ein im 18. Jahrhundert beginnendes Zeitalter der Beschleunigung begriffen, das sowohl dem Einzelnen als auch der Gesellschaft weder die nötige Muße zur Erholung von der durchrationalisierten Alltagswelt erlaubt noch die erforderliche Ruhe gönnt, über die stetige Veränderung aller Lebensbereiche, Normen und Gewissheiten zu reflektieren. Was heute „Akzeleration“ heißt oder als „rasender Stillstand“ (P. Virilio) bezeichnet wird, hat indessen schon Goethe mit der adjektivischen Wortschöpfung des „Veloziferischen“ benannt, in der die generell ablehnende Haltung des Dichters gegenüber der einsetzenden rastlosen Lebenswirklichkeit seiner Zeit mit der Verschränkung von Velocitas (Eile) mit Luzifer anklingt. „Für das größte Unheil der Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten“, so Goethe 1825, „daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. […] und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Welttheil zu Welttheil, alles veloziferisch.“ Vor allem die umwälzenden politischen wie kulturellen Entwicklungen seit 1789 – Revolution, Industrialisierung und (Bürger-)Krieg – vermochte der Weimarer Dichterfürst in seiner Eigenschaft als „Krisenphänomenologe“ und Modernekritiker nur pathologisch zu deuten, liefen sie doch dem klassischen Ideal der Persönlichkeitsentfaltung sowie dem Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschen in zunehmendem Maße zuwider.

Umso mehr verwundert es, dass die Mehrheit der Goethe-Interpreten jahrzehntelang in der Figur des Faust vor allem den Prototypen des modernen und emanzipierten Subjekts erkennen wollte, das zwar seine tragischen Züge schuldhafter Verstrickung besitze, insgesamt jedoch als Held des „Projekts der Moderne“ (J. Habermas) gelten müsste. Nicht nur Spengler entlieh sich Goethes wohl berühmtesten Dramenprotagonisten, um das neuzeitliche Europa als „faustische Kultur“ zu klassifizieren (demnach ließ Goethe im Faust-Drama den typisch „abendländischen Willen“ nach technischer Weltbeherrschung zu sich selbst kommen). Als Identifikationsfigur musste Faust auch der sozialistischen Rezeption dienen. Und im freien Westen klangen Fausts letzte Worte vom „paradiesisch Land“ nicht minder eingängig, wenn der Protagonist „ein Gewimmel […] auf freiem Grund mit freiem Volke“ visionär schaute, um dann mit dem „Verweile doch, du bist so schön!“ von der Bühne ein für allemal abzutreten.

Jaeger widerspricht dieser Deutungstradition grundsätzlich: Faust sei weder als vorbildlicher noch als gebrochener Held gestaltet worden, sondern als „Antipode der klassischen Lebenskunstlehre“. Faust – eine Leitfigur ex negativo also! In fünf umfänglichen Kapiteln, einem „ideengeschichtlichen Epilog“ samt informativem Forschungsüberblick legt der Berliner Germanist dar, dass der späte Goethe auf die Revolutionsereignisse seiner Epoche mit einer eindeutig modernekritischen Resignationsphilosophie reagierte, die in „Faust II“ ihren letztgültigen literarischen Ausdruck gefunden hat. Tatsächlich zeugen Biographie und Werk Goethes davon, dass sich der Altmeister gegen den ästhetischen und politischen „Dilettantismus“ der Romantik und des Vormärz wandte. Dass er sich von Nationalismus und Frühsozialismus zunehmend in die Defensive gedrängt sah. Und dass ihm seine auf Kant fußende Position der Aufklärung in den Ruch des Unzeitgemäßen ebenso geraten zu sein schien wie der Kernbestand klassischer Persönlichkeitsbildung der Ataraxia und des Otium.

Goethes späte Werke stellen denn auch, so Jaeger, nicht die Früchte eines in den literarischen Olymp entrückten Weisen dar, sondern sind Produkte eines prekären Krisenbewusstseins, das seit der traumatischen Erfahrung der Französischen Revolution wuchs – und seitdem ebenso mühevoll wie letztlich vergeblich um Beruhigung rang. Da sind die „Campagne in Frankreich“ und die „Belagerung von Mainz“ (1822) der Autobiographie, das ist die „Italienische Reise“ (1816/17 und 1829) mit der literarisch inszenierten Wiedergeburt des Dichters in Rom und da ist schließlich „Faust II“ (1831), jene „Tragödie“ (!), die am Schluss von der Vernichtung Philemons und Baucis’ durch Fausts Forscherdrang und Umgestaltungswut handelt. Während die uralte Behausung des mythischen Ehepaars in Flammen aufgeht, entsteht in einer gigantischen Baustelle die künstliche Welt moderner Zivilisation: „Was sich sonst dem Blick empfohlen, // Mit Jahrhunderten ist hin“, lauten die Verse zum Untergang der alten Ordnung, während Fausts geplante „Kolonie“ unmittelbar nach dessen Tod als „vollkommenes Einerlei“ erscheint. Wer das Drama zur Hand nimmt, kann schnell nachvollziehen, dass Faust tatsächlich „eine veritable Unglücksfigur“ darstellt. Dass aber der Blick für diese Lesart frei geworden ist, ist Jaegers großes Verdienst (und rechtfertigt den beträchtlichen Umfang seines literaturwissenschaftlichen Opus). Ein Klassiker der Weltliteratur ist neu entdeckt worden. Mehr kann von einer wissenschaftlichen Arbeit kaum verlangt werden.

geschrieben am 28.08.2008 | 811 Wörter | 5159 Zeichen

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