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Ernst Jünger


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Rezension von

Jan Robert Weber

Ernst Jünger Der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel hat eine gediegene Biographie über Ernst Jünger geschrieben, die sich durch profunde literarhistorische wie geistesgeschichtliche Kontextualisierung sowie überzeugende Interpretation des Jüngerschen Gesamtwerks auszeichnet. Kiesel stellt Jünger als einen Autor der „reflexiven Moderne“ vor. In zehn Kapiteln legt er dar, dass Jünger durch das Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs aus seiner bürgerlichen „Geborgenheit“ geworfen wurde, dann in der Weimarer Republik als schriftstellernder Militär und nationalrevolutionärer Publizist den langen Weg künstlerischer Selbstfindung ging, ehe er um 1930 seine Rolle als Autor fand. Diese Selbstfindung machte ihn immun gegen jegliche ideologischen Vereinnahmungsversuche. Mit großem Aufwand an Textbelegen, literaturgeschichtlichen Querverweisen und biographisch-historischen Fakten hat Kiesel diese Entwicklung vom Engagement zum „Desengagement“ beschrieben: Er braucht dafür mehr als die Hälfte seiner 670 Seiten. Dabei macht der Heidelberger Literaturporfessor aus dem Werk heraus verständlich, warum Jünger nach der so genannten Machtergreifung 1933 kein Mitläufer des Hitler-Regimes wurde: Die Autorschaft war im Kern auf Distanz zum Zeitgeschehen angelegt. Sie wurde aus der Beobachterposition des „verlorenenen Postens“ entwickelt und kam auch nach 1945 aus dieser „Verteidigungsstellung“ nicht heraus. Als roten Faden des Oeuvres macht Kiesel den literarisch geführten Moderne-Diskurs kenntlich. Jünger verstand die Moderne im Sinne Max Webers als einen Vorgang unwiderruflicher Entzauberung. Einen linearen Fortschritt vermochte der Schriftsteller nicht zu sehen, eher war es eine zyklisch-spiralförmige Bewegung, die er im turbulenten Geschehen seines Jahrhunderts ausmachte. Zivilisatorische Rückfälle wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die NS-Diktatur, aber auch die zunehmende Umweltverschmutzung hat er daher mit einer eigentümlichen Mischung aus Trauer und Zuversicht kommentiert. Modernisierung begriff Jünger als nihilistischen Reduktionsprozess, der sich eines fernen Tages – den der Autor übrigens mehrmals als kurz bevorstehend angab – in sein Gegenteil umkehren würde. In jedem selbst erlebtem Untergang vermochte Jünger das „Rettende auch“ (nach Hölderlin) zu erblicken. Aus dieser „stereoskopischen“ Perspektive, die Kiesel mit dem Begriff der Ambivalenz erklärt, hielt Jünger Modernisierung für ebenso unaufhaltsam wie notwendig. Eine Biographie über Ernst Jünger hat bislang gefehlt, obwohl die Bücher über ihn mittlerweile etliche Regalmeter füllen. Das ereignisreiche, wechselvolle und mitunter abenteuerliche Leben dieser schillerndern Schriftsteller-Persönlichkeit zu beschreiben, ist keine leichte Aufgabe. Kiesel hat sie – mit Abstrichen – gelöst. Seit 1999 wird Jüngers Nachlass im Marbacher Literaturarchiv verwahrt, bestehend aus Manuskripten, Notizbüchern und unzähligen Briefen. Diesen Nachlass hat Kiesel offenbar zur Kenntnis genommen, aber seine Ausführungen stützen sich vornehmlich auf das bislang Veröffentlichte. Das ist eine vertane Chance. Um Jüngers exemplarisches wie exzeptionelles Leben nachzuzeichnen, ist es notwendig, die reichhaltigen außerliterarischen Quellen sprechen zu lassen. Kiesel verlässt sich allzu sehr auf das literarische Werk als Lebenszeugnis, obwohl dieses doch primär als bewusst gesteuerte Selbstinszenierung zu verstehen ist. Jüngers 22-bändiges Werk ist durch und durch autobiographisch, und aus diesem Grund müssten Werk und Leben konsequent abgeglichen, müsste Jüngers Biographie vornehmlich aus Quellen, Dokumenten und zeitgenössischen Überlieferungen profiliert werden. Das ist nur ansatzweise geschehen. Um die Biographie, wie der Untertitel suggeriert, handelt es sich nicht. Wohltuend ist allemal, wie Kiesel die ideologischen Gräben überspringt, in denen von 1945 bis in die jüngere Vergangenheit zahlreiche Auslegungskämpfe um Jünger geführt wurden. Mit fachmännischer Souveränität entkräftet der Biograph die altbekannten Schlagworte aus der Zeit des Kalten Krieges – „Wegbereiter des Dritten Reichs“, „Ideenlieferant der Neuen Rechten“ – und bleibt abgewogen im Urteil. Dass Jünger einer der ersten deutschen Schriftsteller war, der die Kriegsbverbrechen an der Ostfront benannte, dürfte viele noch heute überraschen. Im Werk steht es seit 1949. Kiesels Biographie setzt daher Maßstäbe. Dabei ist seine Lebensdarstellung gut lesbar und enthält sich der üblichen Zugeständnisse an das wissenschaftliche Schreiben, das meist nur ein anderes Wort für schlechten Stil ist.

Der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel hat eine gediegene Biographie über Ernst Jünger geschrieben, die sich durch profunde literarhistorische wie geistesgeschichtliche Kontextualisierung sowie überzeugende Interpretation des Jüngerschen Gesamtwerks auszeichnet. Kiesel stellt Jünger als einen Autor der „reflexiven Moderne“ vor.

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In zehn Kapiteln legt er dar, dass Jünger durch das Fronterlebnis des Ersten Weltkriegs aus seiner bürgerlichen „Geborgenheit“ geworfen wurde, dann in der Weimarer Republik als schriftstellernder Militär und nationalrevolutionärer Publizist den langen Weg künstlerischer Selbstfindung ging, ehe er um 1930 seine Rolle als Autor fand. Diese Selbstfindung machte ihn immun gegen jegliche ideologischen Vereinnahmungsversuche. Mit großem Aufwand an Textbelegen, literaturgeschichtlichen Querverweisen und biographisch-historischen Fakten hat Kiesel diese Entwicklung vom Engagement zum „Desengagement“ beschrieben: Er braucht dafür mehr als die Hälfte seiner 670 Seiten. Dabei macht der Heidelberger Literaturporfessor aus dem Werk heraus verständlich, warum Jünger nach der so genannten Machtergreifung 1933 kein Mitläufer des Hitler-Regimes wurde: Die Autorschaft war im Kern auf Distanz zum Zeitgeschehen angelegt. Sie wurde aus der Beobachterposition des „verlorenenen Postens“ entwickelt und kam auch nach 1945 aus dieser „Verteidigungsstellung“ nicht heraus.

Als roten Faden des Oeuvres macht Kiesel den literarisch geführten Moderne-Diskurs kenntlich. Jünger verstand die Moderne im Sinne Max Webers als einen Vorgang unwiderruflicher Entzauberung. Einen linearen Fortschritt vermochte der Schriftsteller nicht zu sehen, eher war es eine zyklisch-spiralförmige Bewegung, die er im turbulenten Geschehen seines Jahrhunderts ausmachte. Zivilisatorische Rückfälle wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die NS-Diktatur, aber auch die zunehmende Umweltverschmutzung hat er daher mit einer eigentümlichen Mischung aus Trauer und Zuversicht kommentiert. Modernisierung begriff Jünger als nihilistischen Reduktionsprozess, der sich eines fernen Tages – den der Autor übrigens mehrmals als kurz bevorstehend angab – in sein Gegenteil umkehren würde. In jedem selbst erlebtem Untergang vermochte Jünger das „Rettende auch“ (nach Hölderlin) zu erblicken. Aus dieser „stereoskopischen“ Perspektive, die Kiesel mit dem Begriff der Ambivalenz erklärt, hielt Jünger Modernisierung für ebenso unaufhaltsam wie notwendig.

Eine Biographie über Ernst Jünger hat bislang gefehlt, obwohl die Bücher über ihn mittlerweile etliche Regalmeter füllen. Das ereignisreiche, wechselvolle und mitunter abenteuerliche Leben dieser schillerndern Schriftsteller-Persönlichkeit zu beschreiben, ist keine leichte Aufgabe. Kiesel hat sie – mit Abstrichen – gelöst. Seit 1999 wird Jüngers Nachlass im Marbacher Literaturarchiv verwahrt, bestehend aus Manuskripten, Notizbüchern und unzähligen Briefen. Diesen Nachlass hat Kiesel offenbar zur Kenntnis genommen, aber seine Ausführungen stützen sich vornehmlich auf das bislang Veröffentlichte. Das ist eine vertane Chance. Um Jüngers exemplarisches wie exzeptionelles Leben nachzuzeichnen, ist es notwendig, die reichhaltigen außerliterarischen Quellen sprechen zu lassen. Kiesel verlässt sich allzu sehr auf das literarische Werk als Lebenszeugnis, obwohl dieses doch primär als bewusst gesteuerte Selbstinszenierung zu verstehen ist. Jüngers 22-bändiges Werk ist durch und durch autobiographisch, und aus diesem Grund müssten Werk und Leben konsequent abgeglichen, müsste Jüngers Biographie vornehmlich aus Quellen, Dokumenten und zeitgenössischen Überlieferungen profiliert werden. Das ist nur ansatzweise geschehen. Um die Biographie, wie der Untertitel suggeriert, handelt es sich nicht.

Wohltuend ist allemal, wie Kiesel die ideologischen Gräben überspringt, in denen von 1945 bis in die jüngere Vergangenheit zahlreiche Auslegungskämpfe um Jünger geführt wurden. Mit fachmännischer Souveränität entkräftet der Biograph die altbekannten Schlagworte aus der Zeit des Kalten Krieges – „Wegbereiter des Dritten Reichs“, „Ideenlieferant der Neuen Rechten“ – und bleibt abgewogen im Urteil. Dass Jünger einer der ersten deutschen Schriftsteller war, der die Kriegsbverbrechen an der Ostfront benannte, dürfte viele noch heute überraschen. Im Werk steht es seit 1949. Kiesels Biographie setzt daher Maßstäbe. Dabei ist seine Lebensdarstellung gut lesbar und enthält sich der üblichen Zugeständnisse an das wissenschaftliche Schreiben, das meist nur ein anderes Wort für schlechten Stil ist.

geschrieben am 05.10.2007 | 586 Wörter | 4091 Zeichen

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Rezension von

Daniel Bigalke

Ernst Jünger Der Frühvollendete und Germanist Eugen Gottlob Winkler schrieb vor seinem Suizid 1936: „Bücher bilden uns allgemach eine Welt, die abseits und nur für sich besteht als eine gewaltige Aufbewahrungsstätte von Möglichkeiten des Geistes, deren Kenntnis uns für die Anforderungen eines seltsam neu und anders empfundenen Lebensbereiches nur wenig Hilfe zu bringen scheint.“ (Eugen Gottlob Winkler, Ernst Jünger und das Unheil des Denkens, 2008, S. 6) Es handelt sich hier um eine Erkenntnis aus einem Buche, welches er über Ernst Jünger schrieb. Wie kaum einem anderen gelang es Ernst Jünger in der Tat, mit seinen Büchern eigene Welten zu schaffen, die Seele des Lesers seiner Zeit anzusprechen. So schlussfolgert Winkler in seiner kleinen Schrift schon sehr früh: „Wir brauchen Ernst Jünger“. (ebd.) Die vorliegende Biographie befasst sich mit dem Phänomen Jünger und stellt die vielen Facetten seines Werkes heraus, die sich niemals in ein einziges Schema einordnen lassen. Praktizierte Jünger einst selbst die stereoskopische Lektüre seiner favorisierten Autoren, d.h. das vielseitige Querlesen und Abgewinnen allseits nützlicher Komponenten in jedem Buch ohne ideologische Vorbehalte, so ist der heutige Leser ebenso aufgefordert, eine integrale Lesekompetenz an den Tag zu legen, um Jüngers komplexes Werk zu erfassen und zu verstehen – aus sich selbst heraus, ohne den oberflächlichen Verurteilungen anheim zu fallen. Dafür eignet sich die Biographie Kiesels, die nicht trennt, sondern Ernst Jünger und den potentiellen Leser verbindet. Das stereoskopische Lesen vereint alle Gegensätze. Jünger selbst nannte diese Sichtweise "stereoskopisch". Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre komplementär. So ist nun auch das vorliegende Buch Kiesels einmalig: Es betrachtet das Werk Jüngers als Ausdruck eines Lebens und ordnet es entsprechend sinnvoll in die Zusammenhänge, in denen es sich entfaltete, ein. Kiesel übernimmt dabei die Perspektive Walter Benjamins und absolviert damit die Darstellung bisher derartig nicht dargebrachter Dimensionen. Interessant sind die Abbildungen (484-485): Frühsommer 1940 – Jünger als Kompanieführer auf dem Vormarsch über Sedan in Richtung Paris. Kiesel schreib hier, daß dies die Zeit war, in der der Schriftstellerkollege Walter Benjamin in Richtung Lissabon auswich. Die Kunst des Buches besteht darin, jene Fakten zu benennen, ohne ideologisch zu urteilen. Und in der Tat kann man dem Wege Benjamins und Jüngers mehr abgewinnen, als den bisher reproduzierten Begriffsschrott deutscher Nachkriegsdemokraten: Benjamin beispielsweise wurde nicht von den Nationalsozialisten in den Tod in Richtung Spanien gehetzt, sondern hatte seit jeher eine suizidale Affinität und Abgeneigtheit dem Leben gegenüber, in dem er stets nach fester Ordnung und Orientierung suchte und diese nicht fand – lange vor dem Krieg. Was Jüngers ästhetizistische Metaphorisierung des Krieges angeht, so kann auch diese nicht ideologisch kritisiert werden, wenn man bedenkt, daß die totale Ideologisierung in Jüngers Zeit objektive Gültigkeit besaß. Und ist man ehrlich, so wird vielerlei Urteilen der Gegenwart in zehn Jahren wiederum als Ideologie und temporäre Erscheinung entlarvt werden können. Kiesel betont richtig, daß es eben nicht so einfach sei, „ein geradezu pathologisch wirkendes Szenarium zu beschreiben, in welchem in einem Klima der Unverantwortlichkeit ein ideologisch oder mentalitätsmäßig begründeter Zwang herrschte und einen Automatismus entstehen ließ, der die politischen Akteure (...) gleichsam zu Marionetten machte und große Teile der Bevölkerung applaudieren ließ.“ (182) Daran hat sich nichts verändert – bis heute. Es herrscht immer die vom Mitläufertum getragene normative Kraft des jeweils Faktischen, die sich aber immer dynamisch verhält. Nichts ist wahr, nur weil es gerade als unerbittlich wahr dargestellt wird. Und so gibt es die Erkennenden und die Mitläufer. Jene behalten recht und stehen aus Überzeugung außen vor, die anderen behalten stets Unrecht, bleiben aber die stets opportunistisch Agierenden und vorteilhaft Integrierten innerhalb jener Strukturen, die sich regelmäßig selbst erübrigen, obwohl sie vorher für dauerhaft wahr gehalten wurden. Wie dem auch sei. Kiesels Buch ist von einer Kraft geprägt, die viele Denk-Konstellationen beim Leser entfacht. Das Buch fordert zur dialektischen Optik beim Lesen Jüngers heraus und praktiziert diese Optik in sich selbst. Es zeigt aber auch gerade damit, daß es eine Biographie mit werkbiographischem Schwerpunkt ist, die angesichts der Komplexität jüngerscher Denkwelt nicht das letzte Wort sein kann, das über das Werk Ernst Jüngers möglich ist.

Der Frühvollendete und Germanist Eugen Gottlob Winkler schrieb vor seinem Suizid 1936: „Bücher bilden uns allgemach eine Welt, die abseits und nur für sich besteht als eine gewaltige Aufbewahrungsstätte von Möglichkeiten des Geistes, deren Kenntnis uns für die Anforderungen eines seltsam neu und anders empfundenen Lebensbereiches nur wenig Hilfe zu bringen scheint.“ (Eugen Gottlob Winkler, Ernst Jünger und das Unheil des Denkens, 2008, S. 6) Es handelt sich hier um eine Erkenntnis aus einem Buche, welches er über Ernst Jünger schrieb. Wie kaum einem anderen gelang es Ernst Jünger in der Tat, mit seinen Büchern eigene Welten zu schaffen, die Seele des Lesers seiner Zeit anzusprechen. So schlussfolgert Winkler in seiner kleinen Schrift schon sehr früh: „Wir brauchen Ernst Jünger“. (ebd.)

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Die vorliegende Biographie befasst sich mit dem Phänomen Jünger und stellt die vielen Facetten seines Werkes heraus, die sich niemals in ein einziges Schema einordnen lassen. Praktizierte Jünger einst selbst die stereoskopische Lektüre seiner favorisierten Autoren, d.h. das vielseitige Querlesen und Abgewinnen allseits nützlicher Komponenten in jedem Buch ohne ideologische Vorbehalte, so ist der heutige Leser ebenso aufgefordert, eine integrale Lesekompetenz an den Tag zu legen, um Jüngers komplexes Werk zu erfassen und zu verstehen – aus sich selbst heraus, ohne den oberflächlichen Verurteilungen anheim zu fallen. Dafür eignet sich die Biographie Kiesels, die nicht trennt, sondern Ernst Jünger und den potentiellen Leser verbindet. Das stereoskopische Lesen vereint alle Gegensätze. Jünger selbst nannte diese Sichtweise "stereoskopisch". Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre komplementär.

So ist nun auch das vorliegende Buch Kiesels einmalig: Es betrachtet das Werk Jüngers als Ausdruck eines Lebens und ordnet es entsprechend sinnvoll in die Zusammenhänge, in denen es sich entfaltete, ein. Kiesel übernimmt dabei die Perspektive Walter Benjamins und absolviert damit die Darstellung bisher derartig nicht dargebrachter Dimensionen. Interessant sind die Abbildungen (484-485): Frühsommer 1940 – Jünger als Kompanieführer auf dem Vormarsch über Sedan in Richtung Paris. Kiesel schreib hier, daß dies die Zeit war, in der der Schriftstellerkollege Walter Benjamin in Richtung Lissabon auswich. Die Kunst des Buches besteht darin, jene Fakten zu benennen, ohne ideologisch zu urteilen. Und in der Tat kann man dem Wege Benjamins und Jüngers mehr abgewinnen, als den bisher reproduzierten Begriffsschrott deutscher Nachkriegsdemokraten: Benjamin beispielsweise wurde nicht von den Nationalsozialisten in den Tod in Richtung Spanien gehetzt, sondern hatte seit jeher eine suizidale Affinität und Abgeneigtheit dem Leben gegenüber, in dem er stets nach fester Ordnung und Orientierung suchte und diese nicht fand – lange vor dem Krieg. Was Jüngers ästhetizistische Metaphorisierung des Krieges angeht, so kann auch diese nicht ideologisch kritisiert werden, wenn man bedenkt, daß die totale Ideologisierung in Jüngers Zeit objektive Gültigkeit besaß. Und ist man ehrlich, so wird vielerlei Urteilen der Gegenwart in zehn Jahren wiederum als Ideologie und temporäre Erscheinung entlarvt werden können.

Kiesel betont richtig, daß es eben nicht so einfach sei, „ein geradezu pathologisch wirkendes Szenarium zu beschreiben, in welchem in einem Klima der Unverantwortlichkeit ein ideologisch oder mentalitätsmäßig begründeter Zwang herrschte und einen Automatismus entstehen ließ, der die politischen Akteure (...) gleichsam zu Marionetten machte und große Teile der Bevölkerung applaudieren ließ.“ (182) Daran hat sich nichts verändert – bis heute. Es herrscht immer die vom Mitläufertum getragene normative Kraft des jeweils Faktischen, die sich aber immer dynamisch verhält. Nichts ist wahr, nur weil es gerade als unerbittlich wahr dargestellt wird. Und so gibt es die Erkennenden und die Mitläufer. Jene behalten recht und stehen aus Überzeugung außen vor, die anderen behalten stets Unrecht, bleiben aber die stets opportunistisch Agierenden und vorteilhaft Integrierten innerhalb jener Strukturen, die sich regelmäßig selbst erübrigen, obwohl sie vorher für dauerhaft wahr gehalten wurden. Wie dem auch sei.

Kiesels Buch ist von einer Kraft geprägt, die viele Denk-Konstellationen beim Leser entfacht. Das Buch fordert zur dialektischen Optik beim Lesen Jüngers heraus und praktiziert diese Optik in sich selbst. Es zeigt aber auch gerade damit, daß es eine Biographie mit werkbiographischem Schwerpunkt ist, die angesichts der Komplexität jüngerscher Denkwelt nicht das letzte Wort sein kann, das über das Werk Ernst Jüngers möglich ist.

geschrieben am 29.03.2008 | 707 Wörter | 4372 Zeichen

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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Ernst Jünger Was war Ernst Jünger? Krieger, Waldgänger, Anarch? Oder Dandy? Man könnte auch fragen: Wer war Ernst Jünger? Dieser deutsche Schriftsteller, eine Ausnahmepersönlichkeit in jeglicher Hinsicht. IN SEINEM MUT. Er wuchs unter dem Druck eines strengen und rationalen Vaters auf, der an seinen ältesten Sohn einige Erwartungen hatte. Der hingegen war ein miserabler Schüler, ein Träumer, ein unverbesserlicher Romantiker. Anstatt dem Unterricht zu folgen, las er unter der Schulbank Reiseberichte über Afrika. Da war es nur logisch, dass er sich zur Fremdenlegion absetzte. Kaum in Sidi-Bel-Abbès angekommen, zog es ihn schon wieder zur Flucht. Dann der Erste Weltkrieg. Hier konnte er beweisen, wie sehr er die bürgerliche Welt ablehnte. Er war radikal in seinem Kampfesmut, vielleicht gar in seiner Todessehnsucht. Seinem Bruder Friedrich-Georg rettete er unter Gefahr seines eigenen dessen Leben. Die von ihm beschriebenen Notizhefte bildeten die Grundlage späterer Weltliteratur: ‚In Stahlgewittern’. IN SEINEM ÄSTHETIZISMUS. Meist übersehen wird Jüngers Affinität zum Schönen. Er studierte genauestens die großen Dandys George Bryan Brummell, Oscar Wilde, Stendhal und war nicht zuletzt selbsterzogener Schüler der großen Theoretiker des Dandytums Charles Baudelaire – und Friedrich Nietzsche. Jüngers Einstellung zum DANDYSME – wie zu vielen anderen Dingen – änderte sich im Laufe seines Lebens. Während seiner Arbeit an der Rivarol-Studie war er der Auffassung, der Dandy verharre in einem Vorraum, bliebe eine Art Puppe, weshalb ihm im Alter etwas Unfertiges, Unerfülltes anhafte. „Das fällt an Brummell, Pückler, Pelham auf. Im Dorian Gray hat Wilde das literarische Muster gezeichnet: die goldene, unveränderliche Maske über den Schrecken des Nichts.“ Später hat Jünger stärker die Essenz des dandyistischen Daseinsentwurfs gesehen, wenn er am 3. Februar 1983 in sein Tagebuch einträgt: „Zur Selbstkritik. Den Dandy kränkt mehr, wenn er ästhetisch, als wenn er moralisch nicht genügt. Die Unverschämtheit, falls sie gut placiert ist, schafft ihm den nötigen Respekt im Umgang mit Leuten, die ihm durch eine geschmacklose Krawatte mißfallen, wie Brummell sie an Georg IV. rügt. Dorian Gray vernichtet sein Bildnis nicht seiner Untaten wegen, sondern weil es häßlich geworden ist. Die Blutflecke darauf werden größer und bedecken nun auch die Hand, die das Messer geführt hat – das quält ihn, weil die Haut runzlig geworden ist. Dazu Wilde: ‚Nicht der Mord, sondern sein Bild hatte die Rolle des Gewissens übernommen; es hatte die Schönheit verloren, darum zerstörte er es – er löschte sich aus.’“ IN SEINEM BEHARRUNGSVERMÖGEN. Besaß er doch die Cruzpe, die brav-biedere Bundesrepublik fast bis zum 103. Lebensjahr allein mit seinem Dasein zu ärgern. Einige Monate vor dem 10. Todestag Ernst Jüngers brachte der Siedler Verlag, der zur US-amerikanischen Random House-Gruppe gehört, die erste Biographie über diesen Doyen des deutschen 20. Jahrhunderts heraus. Der Literaturprofessor Helmuth Kiesel war kurz vor Heimo Schwilk fertig, der seine Biographie wenig später bei Piper veröffentlichte. Dies Haus als Heimstatt des Buches ist nicht ganz unpassend, fällt der Name des Verlagsgründers und von dessen Vater doch darin. Jünger hatte mit Siedler sen. seinen Sohn und den mit ihm befreundeten Wolf Jobst Siedler 1943 im Gefängnis besucht. Sie saßen ein, weil sich Ernst Jünger jun. despektierlich über das Naziregime geäußert hatte und denunziert worden war. Dass Kiesel Jünger verehrt, wurde dem größeren Publikum bereits 1995 bekannt, als er an seiner Universität Heidelberg einen Festakt aus Anlass von Jüngers 100. Geburtstag ausrichtete. Kiesels hier gehaltene Rede nahm den Duktus seiner monumentalen Biographie vorweg: Der professorale Biograph ist doch sehr bemüht, einer längst zuende gegangenen political correctness zu genügen, indem er immer wieder Vorwürfe gegen Jünger aufnimmt, um diese dann zu bestreiten. Gern würde man schreiben, zu entkräften, doch das tut Kiesel nicht. Dennoch ist Kiesels allein vom Umfang beachtliches Werk eine äußerst lesenswerte Biographie. Zwar will ihm der sprachliche Tonfall einer anziehenden Erzählung nicht recht gelingen. Die Materialfülle und das Vermeiden von voreiligen und flachen Wertungen sprechen dagegen für das Buch. Der Leser bekommt einen Eindruck vom Leben dieses Ernst Jünger wie kaum zuvor. Kiesel hat seine Auswertung der verschiedenen, immerhin sechs Fassungen der Stahlgewitter noch ergänzt durch eine Einbeziehung der Originalaufzeichnungen. Hierdurch ergibt sich ein noch treffenderes Bild über Jüngers damalige Wahrnehmung und die späteren Stilisierungen. Dies hat allerdings auch eine kritische Seite: Man hätte sich an vielen wichtigen Stationen in Jüngers Leben ein wenig Mehr an Schilderungen seines Lebens und seines Alltags gewünscht. Stattdessen merkt man dem Biographen seine Herkunft als Literaturwissenschaftler an. Immer wieder zieht sich Kiesel in sekundäre Nacherzählungen des von Jünger selbst beschriebenen und publizierten Erlebten zurück. Für den, der Jüngers Werk bereits kennt, ein wenig ermüdend. Erfrischend dagegen lesen sich Sätze wie: „In den siebziger und achtziger Jahren konnte im akademischen Bereich über Jünger nur ‚kritisch’ gesprochen werden; eine Beschäftigung mit seinem Werk bedurfte der Legitimation, und eine Publikation über ihn mußte mit salvierenden Erklärungen beginnen.“ Die Bühne ist abgeräumt, die Front ist bereinigt. Nun können wir uns mit dem geistigen Jünger beschäftigen.

Was war Ernst Jünger? Krieger, Waldgänger, Anarch? Oder Dandy? Man könnte auch fragen: Wer war Ernst Jünger? Dieser deutsche Schriftsteller, eine Ausnahmepersönlichkeit in jeglicher Hinsicht.

weitere Rezensionen von Matthias Pierre Lubinsky


IN SEINEM MUT. Er wuchs unter dem Druck eines strengen und rationalen Vaters auf, der an seinen ältesten Sohn einige Erwartungen hatte. Der hingegen war ein miserabler Schüler, ein Träumer, ein unverbesserlicher Romantiker. Anstatt dem Unterricht zu folgen, las er unter der Schulbank Reiseberichte über Afrika. Da war es nur logisch, dass er sich zur Fremdenlegion absetzte. Kaum in Sidi-Bel-Abbès angekommen, zog es ihn schon wieder zur Flucht. Dann der Erste Weltkrieg. Hier konnte er beweisen, wie sehr er die bürgerliche Welt ablehnte. Er war radikal in seinem Kampfesmut, vielleicht gar in seiner Todessehnsucht. Seinem Bruder Friedrich-Georg rettete er unter Gefahr seines eigenen dessen Leben. Die von ihm beschriebenen Notizhefte bildeten die Grundlage späterer Weltliteratur: ‚In Stahlgewittern’.

IN SEINEM ÄSTHETIZISMUS. Meist übersehen wird Jüngers Affinität zum Schönen. Er studierte genauestens die großen Dandys George Bryan Brummell, Oscar Wilde, Stendhal und war nicht zuletzt selbsterzogener Schüler der großen Theoretiker des Dandytums Charles Baudelaire – und Friedrich Nietzsche. Jüngers Einstellung zum DANDYSME – wie zu vielen anderen Dingen – änderte sich im Laufe seines Lebens. Während seiner Arbeit an der Rivarol-Studie war er der Auffassung, der Dandy verharre in einem Vorraum, bliebe eine Art Puppe, weshalb ihm im Alter etwas Unfertiges, Unerfülltes anhafte. „Das fällt an Brummell, Pückler, Pelham auf. Im Dorian Gray hat Wilde das literarische Muster gezeichnet: die goldene, unveränderliche Maske über den Schrecken des Nichts.“ Später hat Jünger stärker die Essenz des dandyistischen Daseinsentwurfs gesehen, wenn er am 3. Februar 1983 in sein Tagebuch einträgt: „Zur Selbstkritik. Den Dandy kränkt mehr, wenn er ästhetisch, als wenn er moralisch nicht genügt. Die Unverschämtheit, falls sie gut placiert ist, schafft ihm den nötigen Respekt im Umgang mit Leuten, die ihm durch eine geschmacklose Krawatte mißfallen, wie Brummell sie an Georg IV. rügt.

Dorian Gray vernichtet sein Bildnis nicht seiner Untaten wegen, sondern weil es häßlich geworden ist. Die Blutflecke darauf werden größer und bedecken nun auch die Hand, die das Messer geführt hat – das quält ihn, weil die Haut runzlig geworden ist.

Dazu Wilde: ‚Nicht der Mord, sondern sein Bild hatte die Rolle des Gewissens übernommen; es hatte die Schönheit verloren, darum zerstörte er es – er löschte sich aus.’“

IN SEINEM BEHARRUNGSVERMÖGEN. Besaß er doch die Cruzpe, die brav-biedere Bundesrepublik fast bis zum 103. Lebensjahr allein mit seinem Dasein zu ärgern.

Einige Monate vor dem 10. Todestag Ernst Jüngers brachte der Siedler Verlag, der zur US-amerikanischen Random House-Gruppe gehört, die erste Biographie über diesen Doyen des deutschen 20. Jahrhunderts heraus. Der Literaturprofessor Helmuth Kiesel war kurz vor Heimo Schwilk fertig, der seine Biographie wenig später bei Piper veröffentlichte.

Dies Haus als Heimstatt des Buches ist nicht ganz unpassend, fällt der Name des Verlagsgründers und von dessen Vater doch darin. Jünger hatte mit Siedler sen. seinen Sohn und den mit ihm befreundeten Wolf Jobst Siedler 1943 im Gefängnis besucht. Sie saßen ein, weil sich Ernst Jünger jun. despektierlich über das Naziregime geäußert hatte und denunziert worden war.

Dass Kiesel Jünger verehrt, wurde dem größeren Publikum bereits 1995 bekannt, als er an seiner Universität Heidelberg einen Festakt aus Anlass von Jüngers 100. Geburtstag ausrichtete. Kiesels hier gehaltene Rede nahm den Duktus seiner monumentalen Biographie vorweg: Der professorale Biograph ist doch sehr bemüht, einer längst zuende gegangenen political correctness zu genügen, indem er immer wieder Vorwürfe gegen Jünger aufnimmt, um diese dann zu bestreiten. Gern würde man schreiben, zu entkräften, doch das tut Kiesel nicht.

Dennoch ist Kiesels allein vom Umfang beachtliches Werk eine äußerst lesenswerte Biographie. Zwar will ihm der sprachliche Tonfall einer anziehenden Erzählung nicht recht gelingen. Die Materialfülle und das Vermeiden von voreiligen und flachen Wertungen sprechen dagegen für das Buch. Der Leser bekommt einen Eindruck vom Leben dieses Ernst Jünger wie kaum zuvor. Kiesel hat seine Auswertung der verschiedenen, immerhin sechs Fassungen der Stahlgewitter noch ergänzt durch eine Einbeziehung der Originalaufzeichnungen. Hierdurch ergibt sich ein noch treffenderes Bild über Jüngers damalige Wahrnehmung und die späteren Stilisierungen. Dies hat allerdings auch eine kritische Seite: Man hätte sich an vielen wichtigen Stationen in Jüngers Leben ein wenig Mehr an Schilderungen seines Lebens und seines Alltags gewünscht. Stattdessen merkt man dem Biographen seine Herkunft als Literaturwissenschaftler an. Immer wieder zieht sich Kiesel in sekundäre Nacherzählungen des von Jünger selbst beschriebenen und publizierten Erlebten zurück. Für den, der Jüngers Werk bereits kennt, ein wenig ermüdend.

Erfrischend dagegen lesen sich Sätze wie: „In den siebziger und achtziger Jahren konnte im akademischen Bereich über Jünger nur ‚kritisch’ gesprochen werden; eine Beschäftigung mit seinem Werk bedurfte der Legitimation, und eine Publikation über ihn mußte mit salvierenden Erklärungen beginnen.“

Die Bühne ist abgeräumt, die Front ist bereinigt. Nun können wir uns mit dem geistigen Jünger beschäftigen.

geschrieben am 15.04.2008 | 795 Wörter | 4842 Zeichen

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