ISBN | 349226381X | |
Autor | Tilman Röhrig | |
Verlag | Piper | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 496 | |
Erscheinungsjahr | 2011 | |
Extras | - |
Ins rechte Licht gerückt
Caravaggio ist ein kleiner Ort in der Lombardei und durch den Maler gleichen Namens weltberühmt geworden. Wie damals üblich (Leonardo kommt selbstredend aus da Vinci) gibt die Herkunft die Blaupause für den Mythos. Michelangelo Merisi ist der bürgerliche Name dieses umtriebigen, impulsiven und leidenschaftlichen Malers, dem Tilman Röhrig einen preisgekrönten Beststeller modelliert. Ein Roman, der so pulsierend und kraftvoll ist, wie der Maler und dessen Werke selbst: laut, jähzornig, vulgär und unglaublich authentisch. Fast fünfhundert opulente Seiten, die einen in die italienischen Staaten des ausgehenden 16. Jahrhunderts mitnehmen, in denen Technik und Gesellschaftsformen in mancherlei Hinsicht noch ganz unterentwickelt und zart knospend waren, in denen aber Liebeslust, Lebensdramen und soziales Miteinander nicht weniger oder mehr aufwühlend und erregend gewesen sind wie heute.
Aus solcherlei Gründen faszinieren historische Romane: einerseits greifen sie, wie jede gute Literatur, die pointierten Affektionen, Wünsche, Depressionen, Stimmungen und Möglichkeiten der Leser auf und geben Raum für Kongruenz und charakterliche Selbstbestimmung. Andererseits aber transportieren sie die Gerüche und Geschmäcker einer vierhundert Jahre alten Zeit und zeichnen die Impressionen der Zeit auf. Imaginative Traumreisen und historische Faktizitäten segeln auf dem Meer der höchsten Kunst, die Röhrig nach vielen Jahren als Schauspieler und Schriftsteller mittlerweile perfektioniert hat.
Nach Schauspielausbildung und Bühnenpräsenz begann Röhrig in den 1970er Jahren mit Kinder- und Jugendbüchern, die schon damals auf prosaischer Grundlage erklären und helfen wollten - historische Fachbücher oder Unterrichtsmaterialien stammten aus seiner Feder. Je reifer, desto vollmundiger verschenkt er nun den prallen Zauber als umfassender Schriftsteller, der mit diesem Roman das große Publikum erreicht hat. Die Story ist fesselnd, der historische Bezug naheliegend und Röhrigs Schreibe schnell, klar, logisch und ohne ausschweifende Pausen oder schlimme Satzkonstruktionen.
Der Roman beginnt in Micheles Jugend in Caravaggio und berichtet von dem schicksalshaften Gefühlsausbruch nach dem Tode der großväterlichen und väterlichen Vorbilder. Seine Jugendfreundin Paola bewirft er mit einem Stein und fügt ihr eine lebenslang, nicht zu verheilende Narbe zu. Doch trotz Narbe bleibt Paola seine Freundin und mehr – denn diese leidenschaftliche Liebe mit all ihren Irrungen und Wirrungen ist Teil des Handlungsstranges, die den Maler von seiner Heimat über Mailand nach Rom begleitet. Beschrieben wird natürlich in erster Linie der künstlerische Werdegang in Akademien – bei strengen und verdorbenen Lehrmeistern oder bei profitgierigen Ausbeutern –, kombiniert mit persönlichen Schicksalsschlägen und vor allem dem ruhelosen Charakter dieses Malers, der alle Nase lang die Fäuste vors Gesicht nimmt und sie drohend dem Gegenüber ballt.
Überhaupt ist diese Aggressionsgebärde ein zentrales Merkmal dieses Werkes. Wann immer Menschen (Caravaggio ganz besonders, aber auch nahezu alle andere Charaktere, seien sie sonst auch noch so ruhig) jemandem anderen sagen wollen, das sie mit dessen Gehabe nicht einverstanden sind, so drohen sie mit den Fäusten und mitunter schwingen sie sie auch. Gerade diese kleine Geste mit großer Wirkung ist ein wunderbarer Schachzug Röhrigs, der, im Gegensatz zu vielen anderen historischen Romanen, hier wirklich Welten und Verhaltensweisen zeigt, die in einer anderen Zeit stattfanden und die heute so nicht mehr möglich sind.
Viele andere haben dieses Werk bereits ausgiebig belobigt und an dieser Stelle mag man sich bedingungslos anschließen. Ein packender, heißer, aufwühlender Roman, der nicht nur Lust macht, Röhrigs Oeuvre kennen zu lernen, sondern auch sich tief in die schattierte und unheimlich realistische Welt der Gemälde Caravaggios einzulassen.
geschrieben am 29.07.2011 | 540 Wörter | 3430 Zeichen
"Caravaggios Geheimnis" - ein äußerst dramatischer Roman in den satten Farben Caravaggios: Ein Roman wird zur "Leinwand"!
Tilman Röhrig bereichert uns mit seinem neuen farbenprächtigen historischen Roman über den bekanntesten und spektakulärsten Maler des italienischen Barock, Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio: Dabei erlöst er Caravaggio, der sich mittlerweile in der Rezeptionsgeschichte zu einem legendenumwobenen Mythos "entwickelt" hat, von gängigen Klischees, macht sich mit uns sensibel auf die Spurensuche nach den Farben und Geheimnissen des dramatischen und leidenschaftlichen Lebensbildes Micheles und zeigt uns ein bewegtes - in den komplexen Zeitkontext kunstvoll eingebundenes - vielseitig buntes Persönlichkeitsbild Caravaggios, ohne dessen menschliches Geheimnis zu entzaubern:
Michele Merisi, dessen Leben einem spannenden Kriminalstück gleicht, erscheint in einem neuen literarischen Licht!!
Schon die "Rahmenhandlung" entführt uns, einem Krimi gleich, in eine regendunkle Nacht nach Palermo, und wir werden Zeugen des historischen Kunstraubs des bekannten, noch immer verschollenen Gemäldes Caravaggios, der "Nativita", und erleben, wie die beiden Mafiosi das ihnen heilige Ölgemälde zu ihrem Auftraggeber bringen. Mit Maria und Martha, den beiden Hüterinnen des Oratoriums San Lorenzo, richtet sich unser entsetzter Blick auf den leeren Bilderrahmen, "der Goldrand wird zur Schwelle, lockt hinein ins Schwärzliche, der Vorhang hebt sich", und der Autor lässt uns mit dieser genialen Idee in die entbehrungsreiche Kindheit Micheles eintreten. Sehr subtil erfahren wir dieses Zeitfenster als Paradigma seines späteren Lebens. Wir können auch erleben, wie der wild gelockte Michele in der Schule Grimassen schneidet, seine Zähne zum Raubtiergebiss fletscht, schließlich sein Mündchen zum Küsschen spitzt und damit das süße Mädchen mit den dicken Zöpfen, Paola, - ein vom vom Autor liebevoll gestalteter fiktiver "Lebensengel" - zum Lachen bringt, wie sie in seiner kindlichen Zeichnung als einzige zur Ehrenrettung Micheles einen Engel erkennt, und beide wachsen uns ganz schnell fest ans Herz.
Mit Michele bewegen wir uns auf seinem weiteren Lebensweg, erfahren durch kunstvolle Rückblenden Stationen seiner Jugend, erleben, wie er bei Peterzano in Mailand die Kunst der Malerei erlernt und empfinden tiefstes Mitleid, wenn er die Qualen des Malergesellen Francesco erleiden muss. Mit Paola, die mittlerweiler im Dienste der Marquessa Constanca steht, die mit ihr gemeinsam in Micheles Lebenslabyrinth immer wieder behütend einen unsichtbaren Ariadne-Faden auslegt, freuen wir uns, als sie Michele nach langer Trennung wieder begegnet und fühlen ihre Irritation, als dieser nach leidvollen Erfahrungen in Mailand sich mit einem Dolch wappnet. Nun wird Rom zum Sehnsuchtsmotiv seiner beruflichen Träume; aber schon beim Einzug in sein vermeintlich himmlisches Künstler-Jerusalem können wir miterleben, weshalb sein jubelndes Hosianna jäh erstirbt. Auch dunkle Behausungen und entwürdigende Massenproduktionen von Heiligenbildchen verbünden sich zum erdrückenden Albtraum. Keine Sonne geht ihm auf, der Himmel Roms entsternt. Wir bangen und hoffen mit Paola, dass es ihr gelingen möge, ihn aus dem tiefen Lebensdunkel seiner Seelenhöhle in eine lichte Welt zu locken. Wir sind dabei, als er den jungen einfühlsamen Maler Mario kennen lernt, der ihn auch abgöttisch lieben und verehren wird, und wir sind gebannt, wenn Michele die satten Caravaggio-Farben mischt und Mario auf den wunderbaren "Knabenbildern" in tiefster Sinnlichkeit und überbordender barocker Lebesfülle verewigt. Aber wie wird Paola mit dieser homoerotischen Beziehung Micheles umgehen? Der Leser kann gespannt sein. In Rom muss Michele weitere entsetzliche Demütigungen über sich ergehen lassen, und wir erleiden mit ihm das korrupte Rom als janusköpfigen Moloch. Wir begleiten Michele durch die Häuserschluchten und verrufenen Viertel Roms, können zusehen, wie ausdrucksstark er die "Falschspielerin" malt, mit ihm jubeln, als sich ihre ihm Glück versprechende Verheißung erfüllt und endlich sein innovatives Kunsttalent dem bekannten Kunstmäzen, Kardinal del Monte, auffällt, der ihm, auch als Mentor, die Tore zum Erfolg weit aufstößt. Avantgardistisch wie Michele und "das Spiel mit dem Feuer liebend", findet er Gefallen an Micheles Selbstbildnis des "Kranken Bacchus", erfreut sich mit uns an den "verboten verführerischen Engeln" und den "Heiligen" mit den schmutzigen Füßen: Menschen, "sonderbare Heilige", die Michele in den verruchten Tavernen als Modelle entdeckt, sie als "Heilige" leidenschaftlich aufwertet und damit den "Heiligen" wieder das Profane, Menschliche, Erotische schenkt. Seine allzu menschlichen Heiligenmodelle wagt Michele stolz und mutig ins gleißende himmlische Rampenlicht zu stellen und ihnen, wie das faszinierende "Buchkleid" zeigt, mit fließenden, edlen kardinalsroten Gewändern sinnlich zu schmeicheln. Doch in Rom, der Stadt der Künstlerkriege, lösen sein Erfolg und seine eigenwilligen unkonventionellen Bildsujets und -kompostionen grenzenlosen Neid und tiefste Missgunst aus. Auf dem Gipfel seiner Träume, auch im verhängnisvollen Farbenrausch des Ruhms, müssen wir mitansehen, wie Irrlichter ihn betörend umschwärmen, dann seine verwundbare Seele ausloten und ihn schließlich bis aufs äußerste reizen.
Kann Paola ihn noch retten? Wie endet seine atemlose Odyssee durch den weiten Mittelmeerraum? Wie schließt sich der spannende Bogen der Rahmenhandlung?
Tilman Röhrig gelingt es phantastisch, Caravaggios Lebensbild neu auf seiner "Leinwand" in den Farben Caravaggios expressiv zu "malen" und uns in diese bunt schillernde, dramatische Lebensgeschichte zu entführen, die tiefgründigen Aspekte von Liebe, Leidenschaft, Zerrissenheit, Schuld und Einsamkeit Micheles einfühlsam zu beleuchten, so dass wir trotz der vielen Verirrungen des Malergenies glücklicherweise nie den emotionalen Faden zu Michele verlieren.
Mögen viele Leser den "Farbenrausch" dieses magischen Künstlerromans erleben, der auch Lust macht, Caravaggios Bilder neu zu entdecken und mit den Bürgern von Palermo innig zu hoffen, dass ihnen, dem Autor und uns die "Nativita" wieder geschenkt wird!
geschrieben am 27.08.2011 | 846 Wörter | 5427 Zeichen
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